Dunkle Sehnsucht
keine Sekunde zu früh aus dem Aufzug gerettet hatte. Mein Rücken brannte, weil er noch in Heilung begriffen war, aber wenigstens konnte ich mich jetzt wieder aufrichten, auch wenn ich das Gefühl hatte, mir wäre die Wirbelsäule mit dem Bulldozer gerichtet worden.
»Ich bin okay«, rief ich. Ich konnte Bones zwar nicht sehen, aber die Geräusche, die von oben zu mir drangen, ließen vermuten, dass er in einen Kampf verwickelt war. Er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen, indem er sich fragte, ob ich bei dem Absturz umgekommen war. Ich wurde langsamer und sah mich nach einem sicheren Ort um, an dem ich den Mann absetzen konnte.
Da . Ein schmaler Absatz, wo die Kabine in einem Stockwerk hätte anhalten sollen, wäre sie nicht am Boden zerschellt. Ich umfing den Mann mit einem Arm, während ich mit der anderen Hand nach dem winzigen Überstand griff.
Als ich ihn erwischt hatte, baumelten wir beide ein paar Stockwerke über der zertrümmerten Fahrstuhlkabine. Der Mann hing schlaff in meinen Armen, aber sein Herz schlug zum Glück noch. Ihn weiter festhaltend, schwang ich ein Bein nach oben, sodass ich den Fuß in den Ritz zwischen den Türen schieben konnte, die wartende Fahrgäste vor dem ge-fährlich tiefen Schacht auf der anderen Seite schützen sollten. Ich biss die Zähne zusammen, so unbequem war die Position, in der ich mich hielt, und stieß mit einem Fußtritt die Stahltüren auf.
Als der Spalt groß genug war, dass der Mann hindurch-passte, wuchtete ich seine schlaffe Gestalt hinauf und schob sie durch die Öffnung. Niemand war da, aber es würde nicht lange dauern, bis jemand ihn finden würde. Bei dem Lärm, den die abstürzende Kabine gemacht hatte, waren im Hotel sicher bald alle Mann an Deck, um nachzusehen, ob jemand verletzt war. Der Mann musste, als ich mich mit ihm zusammen durch das Fahrstuhldach katapultiert hatte, am ganzen Leib Knochenbrüche und Schnitte davongetragen haben, obwohl ich ihn mit meinem eigenen Körper geschützt hatte.
Aber er lebte, und das Mädchen ebenfalls. Mehr konnte ich für die beiden nicht tun.
Auf Zehenspitzen stehend zerrte ich die Türen wieder zu.
Kaum waren sie geschlossen, sprang ich von dem schmalen Sims zu dem baumelnden Aufzugseil. Ich kam jetzt schnell vorwärts, da ich nicht mehr den Mann schützen musste und meine Verletzungen verheilt waren.
»Wohin so eilig?«, hörte ich Bones zischen, bevor ein weiteres Rumpeln im Schacht erklang und kleine Trümmerteile auf mich niederregneten. Dann kam ein Körper auf mich zu-gesegelt, der Kopf flog etwa drei Meter hinterher. Da keins der Teile zu Bones gehörte, schickte ich ein kurzes Dank-gebet zum Himmel und schwang mich nach links, um nicht getroffen zu werden. Ich rief nicht noch einmal nach Bones, um etwaige Ghule, die vielleicht im Schacht lauerten, nicht auf mich aufmerksam zu machen. Die Atmosphäre war so voll von Bones' wütender Energie, dass man schwer feststellen konnte, ob noch mehr Untote in der Nähe waren.
Ich kletterte schneller, wollte aber nicht noch einmal zu fliegen versuchen. Meine Verletzungen waren zwar verheilt, aber ich fühlte mich noch immer sehr schwach, nachdem ich mit meinem Körper in der Aufzugkabine einen Notausgang für zwei Erwachsene geschaffen hatte. Und im Flug auszuweichen, hatte ich auch noch nicht so ganz drauf.
Krachte ich in Bones hinein, wenn der gerade in eine handgreifliche Auseinandersetzung verwickelt war, konnte das fürchterliche Folgen haben. Kampfgeräusche waren zwar nicht zu hören, aber ich wusste trotzdem, dass er es gerade mit einem Ghul zu tun hatte. Ich spürte tödlich brodelnde Entschlossenheit, vermischt mit zuckendem Schmerz, dem gleich darauf ein Hochgefühl folgte. Was auch immer da vor sich ging, Bones hatte die Oberhand, denn ich spürte keine Furcht von ihm ausgehen.
Wieder erklang lautes Gepolter, dann hörte ich seine Stimme von oben.
»Kätzchen?«
»Hab's fast geschafft«, rief ich und verdoppelte meine Anstrengungen. Weniger als eine Minute später hatte ich das Obergeschoss erreicht, in dem Bones war, und zwängte mich durch das blutverschmierte mannsgroße Loch in der Wand.
Stammte vermutlich von dem kopflosen Ghul, der durch den Aufzugschacht gestürzt war. Das erklärte auch das Krachen, das ich gehört hatte, bevor seine Leiche an mir vorbei-gesegelt war.
Bones hatte mir den Rücken zugekehrt. Er trug keinen Mantel mehr, sodass ich seine inzwischen noch übler zer-schlissenen Klamotten sehen konnte, und er kniete über
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