Dunkle Spiegel
er sich auffällig verhalten, wobei das natürlich ein weit interpretierbarer Begriff war. In dem Bericht, den ich kurz zuvor gelesen hatte, war von hüpfenden Bewegungen und brummenden, zufriedenen Geräuschen die Rede gewesen, über die der anonyme Anrufer berichtet hätte.
Mir fiel auf, dass sich der anonyme Hinweisgeber gar nicht für eine Gegenüberstellung zur Verfügung gestellt hat. Diese Tatsache an sich musste nicht unbedingt merkwürdig erscheinen, aber heutzutage, wo doch fast jeder Mensch gerne einmal für ein paar Sekunden im Leben im Rampenlicht stehen möchte, war so ein Verhalten schon etwas ungewöhnlich.
Neben mir öffnete sich die Tür und zwei Männer traten ein. Der eine war größer als ich und begrüßte mich still mit einem leichten Klopfen auf die Schulter und schob mir eine kräftig duftende Tasse Kaffee in die Hand. Ich dankte Ramirez mit einem Grinsen. Der andere wartete, bis ich mich ihm zuwandte und er mich mit einem festen Handdruck begrüßen konnte.
Agent Newman hatte also auch schon von unserem Fang gehört. Er wirkte frisch, ausgeruht und ausgeschlafen, soweit ich das in dem schwachen Licht erkennen konnte. Ein Hauch von Neid wollte in mir aufkeimen, doch dann konnte ich in seinen Augen den schwachen Schatten erkennen, der sich nach langen Nächten des Grübelns und Nachdenkens einschlich.
“Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Verhör von hier aus verfolgen würde?” fragte er mich. Es war für ihn keineswegs eine Selbstverständlichkeit, dass ich seiner Bitte entsprach, das erkannte ich an seinem Blick.
“Ich habe nichts dagegen.” entgegnete ich. “Vielleicht können wir unsere Einschätzungen nachher in Ruhe miteinander vergleichen.”
Er nickte, lächelte dankbar und betrachtete den Schlafenden.
“Wie geht es ihrer Tochter?” fragte ich vorsichtig. Wie ich bemerkte, hatte er mit dieser Frage nicht gerechnet.
Zeigten die beim FBI denn kein Mitgefühl und Interesse für ihre Mitmenschen?
“Ich habe gestern mit ihr telefoniert. Es geht ihr gut.” antwortete er und lächelte. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: “Sie hat versucht, mich am Telefon zu beruhigen. Sie sagte, ich sollte mir keine Sorgen machen. Sie hätte die Nachrichten gesehen und könne sehr gut auf sich aufpassen gut auf.”
Dabei schüttelte er schmunzelnd den Kopf. “Sie hat mich beruhigen wollen.”
“Weiß sie denn, dass Sie hier sind?”
“Nein, sie glaubt, ich sei in Baltimore. Und ich möchte sie auch in diesem Glauben lassen. Schließlich braucht sie ihre Freiheit. Das hat sie von ihrer Mutter.”
Ich lächelte. Dieser Mann wurde mir immer sympathischer. Ich konnte nichts dagegen tun.
“Ich würde annehmen, dass sie doch bei einem Vater, der für das FBI arbeitet, die entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen gelernt hat, um sich in der heutigen Welt behaupten zu können.”
Er nickte zustimmend. “Ja, wir haben so etwas wie ein Training gemacht und schon sehr früh damit angefangen. Sie sollte sich selbst verteidigen können und über ein starkes Selbstbewusstsein verfügen, das war mein Ziel. Aber wenn aus einem Spiel ernst wird, wer weiß schon, wie sie dann reagieren würde? Außerdem,” fügte er seufzend hinzu, “können wir nicht an alle Vorsichtsmaßnahmen gegen all die Verrückten, ihre Ideen und Absichten denken - dafür sind wir einfach nicht krank genug!”
Ich nickte wortlos, denn es war alles gesagt. Ich wusste, dass mein Ramirez dem Gespräch still, aber aufmerksam gefolgt war. Und in seiner Miene erkannte ich Zustimmung; er dachte und empfand genau das gleiche wie Agent Newman.
Kein Wunder, sie waren beide Väter.
Mir war bewusst, dass sie beide dieser Fall deshalb noch viel, viel härter traf. Ich musste ihn kriegen - für all die klagenden Opfer, die Sarahs der Gegenwart, die noch unschuldig ihren Weg in ihrem Leben suchten und allen Sarahs der Zukunft, die heute noch nicht die blasseste Ahnung hatten, wie brutal diese Welt wirklich sein konnte!
“Das also ist unser Mann? Wirkt irgendwie harmlos. Wie ein typischer Trunkenbold. Ungepflegt und nicht gerade sehr zivilisiert. Adresse?” brummte Ramirez zwischen zwei Schlucken Kaffee.
“Haben wir noch nicht. Er war ja auch kaum ansprechbar. Hat die ganze Zeit etwas von einer Lissy gestammelt, gelacht und gebrummt. Ist aber auch kein Wunder, denn er war deutlich alkoholisiert, als wir ihn fanden.” meinte der Leutnant achselzuckend.
“Und er lehnte an einer Straßenecke?” erkundigte ich
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