Dunkle Spiegel
etwas tiefer geworden. Aber das alles berührte mich an diesem Morgen erstaunlich wenig. Sogar die Welle der Mattheit und bleiernen Müdigkeit war etwas von mir gewichen. Und irgendetwas in mir traute sich kaum zu glauben, dass dieses Gesicht wirklich meins sein könnte, das da so kleine Lachfältchen an den Mundwinkeln zeigte. Meine Augen wirkten zwar noch immer etwas müde, doch in ihrer Mitte war ein Funken zu sehen.
Ein leises Leuchten.
Ich dachte wieder an Sarahs Worte, die sie am Tag zuvor nach einiger Zeit des Schweigens zu mir gesagt hatte: “Du hast einen Stein ins Rollen gebracht. Jetzt bleibt kaum noch etwas für dich zu tun. Warte nur, welche Steine dieser eine jetzt noch mit sich reißt und welche Wege sich dir dann eröffnen werden!”
Sie hatte ja so Recht!
Und wenn man diesen Gedanken zu Ende dachte, dann bedeutete das, dass sogar diese Leere in mir etwas positives ausdrückte. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem sich die Ereignisse von selbst ergeben könnten. Und ich war zu allem bereit. Ich war in Lauerstellung!
Die Ampel zeigte grün und ich fuhr wieder langsam an. Auf den Straßen war es schon etwas belebter als es normalerweise um diese Zeit üblich war. Verständlich. Jeder wollte die ersten, noch zarten und verhaltenen Sonnenstrahlen des jungen Frühlings spüren.
Ich sah lachende Gesichter.
Wie lange war es her, dass ich bewusst die Menschen um mich herum beobachtet hatte. Menschen lachen gesehen hatte? Wie lange war es her, dass ich selbst herzhaft und frei heraus gelacht hatte?
Zu lange, gestand ich mir frustriert ein. Viel zu lange.
Ich bog langsam an der Kreuzung ab und wollte schon in den nächsten Gang schalten, als es wild an die rechte Fensterscheibe meines Autos klopfte. Ich bremste abrupt.
Da stand ein offensichtlich gut gelaunter, grinsender Ricardo Ramirez, der eine riesige Papiertüte auf seinem Arm balancierte. Vorsichtig öffnete er die Tür meines Wagens und stieg ein.
“Einmal zum Präsidium bitte. Aber nicht zu schnell - ich hab´s nämlich nicht eilig!” sagte er zu mir wie zu einem Taxifahrer. Damit schloss er die Wagentür und ich fuhr weiter. Das wütende Hupen hinter mir hatte ich überhaupt nicht wahrgenommen.
“Du bist gut drauf, was? Was hast du denn da in der Tüte?” fragte ich neugierig.
Sie verdeckte meinen ja doch nicht gerade zu klein geratenen Freund fast völlig. Nur sein Gesicht ab der Nasenspitze aufwärts war noch sichtbar.
“Frühstück.” entgegnete er in verschwörerischem Tonfall.
“Und? Was speziell? Und welche Kavallerie hast du dazu eingeladen? - Das scheint ja eine ungeheure Menge zu sein, die du da in der Tüte hast. Das kann doch unmöglich alles für dich allein sein.”
Er schüttelte den Kopf und machte eine leise, abwehrende Handbewegung.
“Nein, natürlich nicht. Das ist für uns beide !”
“Aha.” Ich musste schmunzeln. Die gute Laune in diesem Auto war fast zum Greifen nahe - und so ungewohnt, wenn man an die Wochen zuvor dachte. Woher nur nahmen wir diesen Anflug von Euphorie?
“Das ist ja echt rührend von dir. Aber doch noch einmal meine neugierige Frage: was könnte in dieser bunten Papiertüte sein, die aussieht als wäre sie für einen Kindergeburtstag?”
Ramirez reckte den Kopf in die Höhe und grinste breit.
“Donuts.” sagte er dann genießerisch.
Ich sah erst ihn an, dann wieder die Tür.
“Wieviele … das sind doch nicht etwa …”
“Doch!” Ramirez nickte wild, dass die Tüte knisterte und knackte.
“Uncle Clarksons Donuts?”
“Die ganze Sammlung! Von jeder Sorte zwei Stück! Was sagst du nun?” Und jetzt lachte Ramirez sogar laut und schallend.
Mein Mund hatte wohl vor Staunen weit offen gestanden, denn bei meinem Anblick lachte er nur noch lauter.
Nein, wie erfrischend war dieser Moment! So unbeschwert!
Wieder warf ich einen verstohlenen Blick auf die bunte Papiertüte. Uncle Clarksons Donuts waren schon legendär. Der alte Knabe hatte sein ganzes Leben nichts anderes gemacht, als Donuts zu backen. Fin Clarksons Großmutter war gestorben, als er gerade elf Jahre alt geworden war. Er hatte sehr an ihr gehangen. Und sie hatte ihn geliebt wie kaum etwas anderes auf der Welt. Am Sterbebett bekam er von ihr ein Blatt Papier mit dem Rezept für Vanille-Donuts. Und was soll man sagen? Schon in Kindertagen stellte sich heraus, dass er eine ganz besondere Begabung für das Backen hatte - dabei konnte er sich weder ein Spiegelei braten noch einen Kuchen backen. Aber bereits als
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