Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie
den Bus warteten, banden ihren Mantel mit einem Gürtel zu, direkt um die Taille, auch wenn sie gar keine Taille hatten. Im Ausland zu sein, lenkte meinen Blick auf die unmittelbare Gegenwart. Ich bewegte mich leichtfüßig wie ein junges Reh.
Von Lalla versuchte ich etwas über Jungs zu erfahren, weil die Mädchen in Kilbride einem nichts Richtiges beibrachten. Ich sagte ihr, ich sei ganz verrückt nach einem Jungen zu Hause, aber wir würden uns nie berühren, auch wenn wir nebeneinander in einem leeren Kino saßen.
»Das ist ungesund«, sagte sie missbilligend. »Vor allem für den Jungen. Davon kann er sogar Migräne bekommen.«
Das brachte mich völlig durcheinander, denn Lalla hatte mich noch kurz vorher zurechtgewiesen, weil ich ab und an Jungs in unser Zimmer mitbrachte.
»Ich küsse sie nur«, hatte ich mich eingeschüchtert verteidigt. »Mehr nicht.«
Aber Lalla wurde rot. Sie hatte so durchsichtige Haut, dass man sehen konnte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Es war wie bei Maria Stuart – deren Hals war angeblich so weiß, dass man sehen konnte, wie der Rotwein beim Trinken durch ihre Kehle floss.
Jeden Tag freute ich mich auf den Abend. Dann verwandelte sich unser Zimmer in eine warme Höhle, wir verkrochen uns im Bett, beide unter einer dicken Daunendecke, und redeten über Gott und die Welt, leise und ernst, Kopf an Kopf. Ich hatte immer das Gefühl, dass andere Leute mich als hektisch und unzuverlässig empfanden. Aber Lalla stärkte mein Selbstwertgefühl.
»Du bist nicht dafür gemacht, in einem Kaufhaus zu arbeiten, Rosie«, sagte sie. »Ob dein Leben groß oder klein ist, hängt davon ab, wie du dich selbst siehst. Meine Großmutter und meine Mutter waren Ärztinnen. Das ist das Gute daran, wenn man Jüdin ist. Bei den Juden hatten die Frauen schon immer das Recht auf eine richtige Ausbildung.«
»Ich dachte, jüdische Frauen müssen immer vom Rabbi gereinigt werden und solche Sachen«, entgegnete ich. »So wie die Katholikinnen, nachdem sie ein Kind bekommen haben. Hast du das gewusst? Wir müssen einen Hexendoktor holen, der sich Priester nennt, und der muss uns mit Wasser besprengen, damit wir wieder rein werden, weil wir uns durch die Geburt beschmutzt haben.«
»Was ist denn schmutzig daran, ein Baby zu bekommen?«
»Wahrscheinlich das Blut.«
»Aber eine Geburt ist nicht unbedingt blutig.«
»Woher weißt du das?«, fragte ich.
»Ich habe mal gesehen, wie ein Kind auf die Welt kommt. Unsere Köchin hat ihr Kind zu früh gekriegt, und ich habe meiner Mutter geholfen.«
»Ehrlich? Wie war das?«
»Geh wieder in dein Bett. Ich muss jetzt schlafen.«
Wir verschlangen jedes amerikanische Frauenbuch, das wir in die Hände bekamen, und wir lasen immer wieder die Exemplare von Ms Magazine , die aus irgendeinem Grund in der Zentralbibliothek der Universität von Lille bei den ausländischen Zeitschriften gelandet waren – bis die Hefte fast auseinanderfielen.
»Meine Mutter ist eine eingesperrte Ehefrau«, seufzte Lalla. »Sie hat keine Ahnung, wie sie in einer Villa an der algerischen Küste gelandet ist, mit einem Fremden, der behauptet, ihr Ehemann zu sein.«
»Auf Min trifft keine von den Kategorien in diesen Büchern zu«, sagte ich. »Frauen wie Min kommen in Ms Magazine gar nicht vor. Aber für die meisten Frauen in Kilbride ist die Familie ihr ganzes Leben. Min ist anders als die anderen, aber eigentlich nur zufällig. Und so jemand wird nicht richtig ernst genommen.«
»Simone de Beauvoir hat total recht, wenn sie beschreibt, was die Männer mit den Frauen machen. Aber was Frauen mit Frauen machen, kann noch viel schlimmer sein. Meine Mutter entscheidet über meine Zukunft. Und ob ich frei bin oder nicht, ist ihr völlig gleichgültig, weil sie selbst nicht frei ist.«
»Du denkst viel an deine Mutter, Lalla. Und ich denke viel an Min. Sie ist ja mehr oder weniger meine Mutter. Aber was schließt du daraus, dass Kate Millett und Gloria Steinem und die ganzen amerikanischen Superfeministinnen Mütter gar nicht wichtig finden? Meinst du, das liegt daran, dass in Amerika so viel Platz ist? Alle Leute ziehen ständig um. Die Mütter haben keine Ahnung, was die Töchter machen.«
»Ich glaube nicht, dass Mütter so streng mit ihren Töchtern wären, wenn’s keine Väter gäbe«, sagte sie. »Ich glaube, die Mütter erledigen für sie die Drecksarbeit.«
»Aber sie grenzen dich aus, wenn du dich nicht anpasst. Nicht mal bei meiner Erstkommunion haben die Frauen mir
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