Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie
die Chance
gegeben, mich richtig gut zu fühlen. Meinem Vater war morgens übel geworden, deshalb sind wir zu spät in die Kirche gekommen, und alle anderen Mädchen waren schon Hand in Hand nach vorn gegangen. Ich war ganz hinten am Schluss, hinter den Jungs. Und allein. Das einzige Kind, das allein war. Alle haben mich ausgelacht.«
»Das wirst du nie vergessen – bis an dein Lebensende«, sagte Lalla.
Mir wurde warm bis in die Fußsohlen, weil sie mich so liebevoll anlächelte.
»Aber Frauen können auch nett zueinander sein«, sagte ich. »Min hätte überhaupt nichts vom Leben gehabt ohne eine Nachbarin wie Reeny. Und …« – ich redete weiter, obwohl ich rot wurde vor Verlegenheit – »… man muss sich doch nur anschauen, wie du alles hier mit mir teilst.«
»Ja«, sagte Lalla und fügte dann halb ironisch, halb stolz hinzu: »Ja, das stimmt, Schwester .«
Ich bin mir sicher, manchmal liebte sie mich genauso wie ich sie.
Natürlich kommt das erste Mal nie wieder. Wenn man das erste Mal stolz auf sich selbst ist. Die ersten Ideen, die nur dir und deinen Freunden gehören und sonst niemandem. Der erste heißgeliebte Freund. Die erste heißgeliebte Freundin.
Als ich in Sydney arbeitete, kam ich drei Jahre lang nicht nach Hause. Min bat Monty, mit ihr zum Flughafen von Dublin zu fahren, um mich abzuholen. Es war das einzige Mal, dass sie das tat. Auf der Heimfahrt erzählte sie mir die neuesten Geschichten. Und Min konnte sehr spannend erzählen. Damals kursierte zum Beispiel das Gerücht, dass Mr. Colfer in die mollige Ehefrau verliebt war, die Enzo von der Fish and Chips-Bude Sorrento aus der Heimat mitgebracht hatte. Die junge Frau, die im Polizeirevier putzte, hörte, wie der Garda-Sergeant Mr. Colfer
mitteilte, es sei ihm untersagt, das Sorrento zu betreten, und Mr. Colfer beschimpfte daraufhin den Sergeanten als »Blauhemd« und »West Brit«, der in einem unabhängigen Irland nichts zu sagen habe.
Daheim saß ich dann im Sessel, streichelte Christabel – so hieß unsere damalige Katze – und freute mich darauf, noch mehr Anekdoten zu erfahren. Min setzte sich auf den Stuhl, auf den man steigen musste, wenn man die Jalousie herunterziehen wollte. Sie betrachtete ihren Handrücken.
»Die Schule hat eine Nachricht geschickt«, sagte sie. »Sie haben einen Anruf aus der Stadt in Belgien bekommen, in der du damals warst. Irgendeine Nonne von dort wollte mit Schwester Cecilia sprechen.«
»Roubaix ist in …«
»Ist doch egal. Schwester Cecilia wohnt nicht mehr im Kloster, sie hat eine Sozialwohnung in der Stadt, bei den Ärmsten der Armen, und sie hat kein Telefon, also mussten die Leute vom Laden dort zu ihr laufen und nach oben rufen, dass jemand aus dem Ausland am Telefon ist. Das hat bestimmt ein Vermögen gekostet, die Anruferin so lange warten zu lassen – bei einem Ferngespräch!«
Ich wartete. Min strich ihre Schürze glatt.
»Anscheinend konnte sie sehr gut Englisch«, sagte Min. »Die andere Nonne.«
»Was willst du mir sagen?«, unterbrach ich sie. »Was ist passiert?«
»Anscheinend hat diese andere Nonne gefragt, ob das irische Mädchen – das bist du – schon über Lalla Bescheid weiß. Schwester Cecilia hat zurückgefragt: Warum, was ist mit Lalla? Die Nonne hat geantwortet, dass Lalla und ihr Mann in einem Hotel waren, irgendwo in den Bergen, und Lalla – also vielleicht ist sie ja nur ausgerutscht, aber jedenfalls ist sie vom Balkon gestürzt.«
Min schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »In der Zeitung von der Stadt, zu der das Hotel gehörte, war ein Artikel darüber, und darin stand, sie ist gesprungen.«
»Warum?« Ich konnte den Blick nicht von Mins Mund nehmen.
»In der Zeitung stand, sie wurde verbrannt, und ihre Asche wurde an ihre Familie geschickt.«
Ich muss sie mit unverhüllter Feindseligkeit angestarrt haben.
»Meine Mutter ist mit dem Boot nach Milbay gebracht worden, in eine Wolldecke gehüllt, und wir haben die Decke nie zurückbekommen«, sagte Min bitter. »Ein paar Jahre später habe ich gedacht, ich kann meine Schwester sehen, wenigstens um mich zu verabschieden. Dann bin ich ins Krankenhaus gegangen, weil ich dich abholen sollte, und sie haben die Leiche meiner Schwester einfach ins Sanatorium zurückgeschickt, und keiner hat irgendwas unternommen, um mich dorthin zu bringen, damit ich sie sehen kann. Und dein Vater! Ich war noch so jung, finde ich, als er krank geworden ist. Es gab keinen Menschen auf der Welt, auf den ich mich
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