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Dunkle Umarmung

Dunkle Umarmung

Titel: Dunkle Umarmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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bewegte sich mit größter Sicherheit voran, zögerte nie an einer Biegung und zweifelte nie daran, daß er sich für die richtige Richtung entschieden hatte.
    »In den Augen anderer«, erklärte er, »sehen alle diese Hecken gleich aus, aber wenn man, wie ich, mit ihnen aufgewachsen ist, bemerkt man kleinste Unterschiede. Für mich unterscheiden sich diese Gänge voneinander wie Tag und Nacht. Nach einer Weile wird es dir genauso gehen«, versicherte er mir.
    Das Häuschen wirkte von außen völlig unverändert, wenn man davon absah, daß sämtliche Jalousien geschlossen waren.
    Im Haus hatte Tony seine Staffelei aufgebaut und seine Farben, seine Stifte und sein Zeichenmaterial bereitgelegt. Er hatte eine lange Werkbank aus Metall aufgestellt. Das Material und alle Werkzeuge für die Skulptur standen auch schon da.
    Die Möbelstücke waren verrückt worden, damit soviel Platz wie möglich frei blieb. Zwei große Stablampen standen beiderseits der Staffelei, und die Glühbirnen warfen ihren Schein auf das kleine Sofa.
    »Für den Anfang werden wir dich dort hinsetzen«, sagte er und deutete auf das Sofa. »Entspanne dich, und denk an etwas Schönes. Ich werde einen Moment brauchen, bis ich alles aufgebaut habe«, setzte er hinzu. Er begann, seine Sachen zu sortieren. Ich setzte mich auf das Sofa und sah ihm zu, und in seinem Gesicht erkannte ich dieselbe kreative Zielstrebigkeit und die Konzentration, die ich schon oft im Gesicht des kleinen Troy beobachtet hatte.
    Ich trug eine schlichte weiße Baumwollbluse und einen hellblauen Rock. Mein Pony war kurz geschnitten, aber mein übriges Haar war lang genug, um mir bis auf die Schulterblätter zu fallen, und es schmiegte sich weich an meinen Hals und meine Schultern. Ich hatte keinen Lippenstift aufgetragen.
    »Okay«, sagte Tony und wandte sich zu mir um. »Ich werde mit deinem Gesicht anfangen. Sieh mich einfach mit einem kleinen Lächeln an. Ich möchte, daß diese Puppe deine natürliche Schönheit widerspiegelt, deinen zarten und hübschen Gesichtsausdruck.«
    Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. War das alles wahr? War ich zart und hübsch? Wenn Tony mich für ein so bedeutendes Projekt haben wollte, mußte er diese Dinge doch in mir sehen. Er konnte mir nicht einfach schmeicheln, damit ich mich wohl fühlte.
    Er warf einen langen Blick auf mich. Ich richtete meine Augen auf ihn, wie er mich angewiesen hatte, und ich sah, wie er meine Gesichtszüge maß und seine ersten Striche plante. Ich fing wirklich an, mir vorzukommen, als sei ich Teil eines künstlerischen Geschehens, und bald ließen mein Zittern und mein Herzklopfen nach. Tony sah mich an, zeichnete, sah mich an, nickte und zeichnete weiter. Ich bemühte mich, ganz stillzuhalten, aber es fiel mir sehr schwer.
    »Ein wenig darfst du dich bewegen«, erlaubte er mir lächelnd. Ich tat es. »Fühlst du dich jetzt besser?«
    »Ja.«
    »Das wußte ich doch. Wir werden immer eine Zeitlang arbeiten und dann Pause machen. Ich habe in der Küche leckere Sachen zum Mittagessen stehen«, sagte er begeistert.
    »Wie lange täglich werden wir arbeiten?«
    »Wir werden morgens eine Zeitlang arbeiten, dann genüßlich und in Ruhe zu Mittag essen, und dann arbeiten wir noch ein paar Stunden am Nachmittag. Wenn es dir zuviel wird, brauchst du es nur zu sagen.«
    Es überraschte mich, wie schnell die erste Stunde vorüberging. Tony forderte mich auf, mir anzusehen, was er geschaffen hatte. Ich stand auf und schaute auf die Leinwand.
    Er hatte die Konturen meines Gesichts skizziert, meine Lippen, meine Augen und meine Nase. Er hatte gerade erst mit meinem Haar und meinem Hals begonnen. Natürlich war es noch zu früh, um ein Urteil abzugeben, aber ich merkte jetzt schon, daß er Talent besaß.
    »Das ist noch gar nichts«, sagte er, »aber ich glaube, es ist schon ein ganz guter Anfang.«
    »O ja, es ist wirklich sehr gut.«
    »Es ist eine wunderbare Erfahrung, künstlerisch tätig zu sein«, sagte er und starrte mit dunklen, angespannten Augen auf die Leinwand. »Es gibt einem das Gefühl, etwas erreicht zu haben, wenn man auf einer blanken Leinwand etwas zum Leben erweckt. Dieses Zeichnen entspricht den ersten Stadien der Zeugung eines Kindes… die Samen meiner Vorstellung vermengen sich mit der Wirklichkeit und nehmen Gestalt an, genauso wie sich der Samen eines Mannes an das Ei einer Frau heftet und so die ersten Anfänge entstehen läßt, die später zur Geburt eines Babys führen. Du und ich«, sagte er und

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