Dunkle Umarmung
Arme. Die Tränen, die sich in meinen Augenwinkeln gesammelt hatten, rannen jetzt langsam über meine Wangen.
Als er sich aus meinen Armen löste und sie sah, schaute er mich überrascht an.
»Warum weinst du, Leigh?«
»Nur aus Freude darüber… daß du für immer und ewig mein kleiner Bruder sein wirst, Troy«, sagte ich. Er strahlte über das ganze Gesicht. Ich hatte das Gefühl, daß er in diesem Moment vor meinen Augen kräftiger und gesünder wurde.
Alles, was ihm wirklich fehlte, dachte ich, war jemand, der ihn liebte, jemand, der ihm das Gefühl gab, erwünscht zu sein.
Ich war ganz sicher, daß Tony ihn liebhatte, aber er hatte so viel zu tun, daß er nicht der Vater sein konnte, den Troy brauchte; und meine Mutter… sie war so sehr mit sich selbst beschäftigt und fühlte sich von Troys Krankheiten derart abgestoßen, daß sie ihn gar nicht zur Kenntnis nahm. Der empfindliche, einfühlsame kleine Troy hatte mit Sicherheit das Gefühl, vollkommen allein zu sein. Ich begriff, daß er wirklich nur mich hatte.
In mancher Hinsicht erging es mir nicht anders als ihm. Es kam jetzt so oft vor, daß meine Mutter nur noch ihre eigenen Pläne und Sorgen im Kopf hatte. Und mein Vater war weit weg. Troy und ich waren zwei Waisenkinder, die man in diesem großen Haus ausgesetzt hatte, und wir waren von den Dingen umgeben, von denen andere Kinder und junge Leute träumten. Aber solange man nicht geliebt und umsorgt wurde, blieben die Dinge wirklich nur Dinge, leblose Gegenstände.
»Kommst du später zu mir und liest mir etwas vor, Leigh?«
fragte er.
»Nach dem Abendessen. Ich verspreche es dir.«
»Schön. Und jetzt muß ich zu Tony gehen«, sagte er. »Vergiß es nicht«, fügte er noch hinzu und rannte auf seinen wackligen kleinen Beinen aus meiner Suite. Das brachte mich zum Lachen, aber gleichzeitig machte es mich traurig.
Ich zog mich für das Abendessen um. Tony saß bereits im Eßzimmer, als ich herunterkam.
»Wie geht es dir? Bist du erschöpft?« fragte er.
»Ja, aber ich habe keine Ahnung, warum.«
»Du darfst nicht unterschätzen, was du tust. Das ist Arbeit.
Auch du konzentrierst dich, und vergiß nicht, daß du heute nervös warst. Auch das kann anstrengend sein. Morgen wirst du schon weniger nervös sein, und es wird von Tag zu Tag einfacher für dich.«
»Wie lange brauchen wir, Tony?« fragte ich. Er hatte »von Tag zu Tag« gesagt.
»Eine Weile. Für das eigentliche Gemälde werde ich sehr viel Zeit aufwenden müssen. Ich will deinen Hautton, deine Augen und dein Haar perfekt hinkriegen. Und dann geht es an die Plastik selbst. Wir dürfen nichts übereilen«, sagte er lächelnd.
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Es klang, als würde ich den ganzen Sommer damit zubringen, nackt vor ihm in dem kleinen Häuschen zu stehen. Würde er mich immer wieder anfassen müssen?
»Aber hast du denn nicht auch anderes zu tun?«
»Ich habe gute Mitarbeiter.« Er tätschelte meine Hand.
»Mach dir keine Sorgen, du wirst für alles andere, was du tun willst, genügend Freizeit haben.«
Ich nickte. Wie hätte ich ihm sagen können, was mir wirklich Sorgen machte? Wem hätte ich das sagen können? Wo war meine Mutter? Wo war mein Vater?
Nach dem Abendessen ging ich zu Troy, um ihm vorzulesen, doch seine Krankenschwester fing mich vor seiner Suite ab und sagte mir, daß er schon schlief.
»Die Medizin, die er nimmt, macht ihn schnell müde«, erklärte sie. »Er hat sich Mühe gegeben, um für Ihren Besuch wach zu bleiben, aber dann sind ihm die Augen von selbst zugefallen.«
»Ich sehe nur kurz nach ihm«, sagte ich und ging auf seine Schlafzimmertür zu.
Ich entschloß mich, in Zukunft mehr Zeit für ihn zu haben.
Das würde mich von meinen eigenen Problemen ablenken.
Ich las noch eine Weile und hörte Radio in meinem Wohnzimmer, und dann versuchte ich einzuschlafen, doch als ich das Licht ausgeschaltet und die Augen geschlossen hatte, konnte ich an nichts anderes denken als an Tony, der seine Hände auf meinen nackten Körper gelegt hatte.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, zog ich mich an und begab mich eilig zu den Räumen meiner Mutter, aber ihre Schlafzimmertür war noch geschlossen. Ich klopfte sachte an.
»Mama? Ich muß heute morgen noch mit dir reden«, flüsterte ich durch die Tür. Ich wartete, aber es kam keine Reaktion.
»Mama?« sagte ich lauter und wartete ab. Es kam immer noch keine Reaktion. Das erboste mich, aber da ich entschlossen war, mit ihr über das zu
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