Dunkle Umarmung
erinnerte mich daran, wo Tony in seinem Büro kleinere Geldbeträge aufbewahrte, und ich ging hin, um mir das Geld zu holen. Warum auch nicht? dachte ich. Wenn mir jemand etwas schuldig war, dann doch wohl Tony.
In einer Schreibtischschublade lagen fast zweihundert Dollar.
Das war zwar kaum ein Vermögen, aber es reichte doch für den Anfang aus. Ich stopfte das Geld in mein Portemonnaie, richtete mich auf und sah in einen Spiegel. Ich strich mir das Haar zurück, wischte mit einem Taschentuch meine Wangen ab und holte tief Luft. Ich wollte nicht so verzweifelt aussehen, wie mir zumute war. Ich hatte die Absicht, aus dem Haus zu gehen und Miles ganz beiläufig zu bitten, mich nach Boston zu bringen. Falls er Verdacht schöpfte, könnte er meine Mutter fragen, ob es ihr recht war.
Ich trat aus dem Büro und schloß die Tür leise hinter mir. Im Haus war es still. Meine Mutter war wahrscheinlich längst wieder mit ihrer Toilette beschäftigt. Schließlich ging ihr nichts über ihr Aussehen, und sie hatte Leute eingeladen, die sie beeindrucken wollte. Curtis kam aus dem Musikzimmer und blieb stehen. Ich lächelte ihn an und versuchte, alles ganz normal erscheinen zu lassen. Er nickte mir kurz zu und ging weiter zur Küche.
Dann trat ich aus der Haustür. Die Sonne schien so hell, daß ich blinzelte und mir die Hand über die Augen hielt. Es war ein sehr warmer Tag, und große Wolken waren hoch über den tiefblauen Himmel verteilt. Eine sachte laue Brise streichelte mein Gesicht. Die Welt hieß mich willkommen, ermutigte mich, aus dem finsteren, verwunschenen Königreich zu fliehen, das sich Farthinggale nannte.
Miles stand vor dem Haus und polierte den Wagen. So mußte ich ihn nicht erst suchen und dabei die Aufmerksamkeit der Gartenarbeiter auf mich lenken. Er sah auf, als ich auf ihn zukam.
»Ich bin doch nicht zu früh?« fragte ich und lächelte. Ich sah auf meine Armbanduhr und hielt sie ihm dann hin, damit er selbst sehen konnte, wie spät es war.
»Wie?« Er legte sein Poliertuch weg und sah mich verwirrt an. »Hätte ich Sie heute nachmittag irgendwo hinfahren sollen?«
»Zum Bahnhof, Miles. Sagen Sie bloß nicht, daß meine Mutter vergessen hat, es Ihnen heute morgen zu sagen.«
»Nein, sie hat mir nichts gesagt. Ich…«
»Das sieht ihr ähnlich. Wenn sie eine ihrer Wohltätigkeitsveranstaltungen plant, ist sie so aufgeregt und durcheinander, daß sie alles andere vergißt«, flötete ich. Ich wußte, daß er mir glauben würde. »Ich werde meine Großmutter besuchen. Es ist alles vereinbart. Ich fürchte, wir müssen auf der Stelle losfahren, weil ich sonst meinen Zug verpasse.«
»Aber…« Er sah am Haus hinauf.
»Miles?« Ich hob meinen Koffer hoch und sah ihn auffordernd an.
»Ach ja.« Er nahm ihn mir eilig ab und brachte ihn im Kofferraum der Limousine unter. »Ich kann nicht verstehen, warum Curtis mich nicht daran erinnert hat. Er sagt mir doch immer Bescheid, wenn jemand gefahren werden soll.«
»Vielleicht hat Mama auch nicht daran gedacht, es ihm zu sagen«, sagte ich. »Können wir fahren?«
»Was? Ach so, ja.« Er hielt mir die Tür auf, und ich glitt rasch auf den Sitz. Dann stieg Miles auch ein und startete den Motor. Ich behielt die Haustür im Auge und rechnete halbwegs damit, meine Mutter plötzlich schreiend auftauchen zu sehen.
Aber sie erschien nicht, und Miles steuerte auf die lange, gewundene Auffahrt zu. Ich sah aus dem Seitenfenster, und plötzlich entdeckte ich den kleinen Troy und seine Krankenschwester, die von einem Spaziergang am Meer zurückkehrten. In meiner Aufregung und meiner Wut hatte ich nicht nur ihn vollständig vergessen, sondern auch, was mein Fortgehen für ihn bedeuten würde.
»O nein«, murmelte ich vor mich hin. »Troy. Miles«, rief ich.
»Halten Sie doch bitte einen Moment an. Ich habe vergessen, mich von Troy zu verabschieden.«
Ich sprang aus dem Wagen und rief nach Troy. Ich winkte ihm zu. Er blieb stehen und kam dann auf mich zugerannt und schwenkte dabei sein kleines Eimerchen.
»Leigh. Ich habe die größte Muschel gefunden, die du je gesehen hast«, bestürmte er mich. »Sieh nur.« Er blieb atemlos vor mir stehen und stellte seinen Eimer ab. Oben auf vielen kleineren Muscheln lag eine rosa-weiß gemusterte Schneckenmuschel.
»Die ist aber wirklich groß.«
»Und man kann das Rauschen des Meeres in ihr hören.« Er hob sie hoch und hielt sie mir hin. »Hör nur.«
Ich hielt sie mir ans Ohr und nickte lächelnd.
»Das klingt ja ganz
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