Dunkle Umarmung
durch die Wolken funkelten. Sie waren mir nie ferner erschienen als jetzt.
Der Zug fuhr und fuhr. Von Zeit zu Zeit sah ich die Lichter anderer Städte oder alleinstehender Häuser in der Ferne, und ein warmer gelber Schein drang durch die Fenster. In diesen Häusern saßen Familien zusammen beim Abendessen. Diese Kinder fühlten sich bei Eltern, die sie liebten, geborgen und in Sicherheit. Sie waren nicht so reich wie ich, und ihr Zuhause hätte man in einem kleinen Winkel von Farthinggale Manor unterbringen und dort gänzlich übersehen können, aber sie schliefen heute nacht in ihren eigenen Betten, und ihre Eltern gaben ihnen einen Gutenachtkuß. Mütter deckten kleine Kinder sorgsam zu. Väter küßten sie auf die Wangen oder auf die Stirn und versprachen ihnen einen noch schöneren oder glücklicheren nächsten Tag.
Ich hatte niemanden, der mir einen glücklicheren oder schöneren Tag versprach, niemanden außer Angel. Sie und ich saßen da wie zwei Kinder, die sich verlaufen hatten und ins Unbekannte zogen. Wir waren müde und hungrig und fühlten uns jetzt schon reichlich einsam. Der Herr, der mir gegenübersaß, musterte mich zwar neu gierig, als ich Angel entschlossen auf meinen Schoß setzte, aber ich ließ sie dort sitzen und drückte sie fest an mich, als der Zug weiter rollte.
Mein Entschluß stand fest. Es gab kein Zurück mehr, weder jetzt noch irgendwann. Bald ließ mich der monotone Rhythmus der Räder müde werden, und ich schlief ein.
Mitten in der Nacht erwachte ich jäh. Es war dunkel im Abteil, aber die Lichter in den Gängen brannten, und daher konnte ich mich schnell wieder erinnern, wo ich war und was ich getan hatte. Der Herr mir gegenüber war mit der aufgeschlagenen Zeitung auf dem Schoß eingeschlafen. Sein Körper wankte mit den Bewegungen des Zugs von einer Seite auf die andere. Ich rollte mich wieder zusammen und schloß die Augen. Wenige Momente später war ich wieder eingeschlafen.
In der ersten Morgendämmerung erwachte ich und sah auf Bauernhöfe und ebene Felder hinaus. Der ältere Herr war bereits wach.
»Wie weit fahren Sie, Miß?« fragte er.
»Bis Atlanta.«
»Ich steige an der nächsten Station aus. Sie haben noch rund fünf Stunden vor sich. Sie können im Speisewagen frühstücken. Eine sehr hübsche Puppe«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung auf Angel. »Ich glaube nicht, daß ich schon einmal eine so schöne Puppe gesehen habe«, fügte er mit einem bewundernden Lächeln hinzu.
»Danke.«
»Sie fahren nach Hause?«
Ich hielt es für besser, ja zu sagen. Auf gewisse Weise war ich vielleicht sogar auf dem Heimweg, dachte ich zu meiner Rechtfertigung.
Er streckte sich.
»Ich auch«, sagte er. »Ich bin fast einen Monat unterwegs gewesen. Ich bin Handlungsreisender, Schuhe für den Großhandel.«
»Es muß hart für Sie sein, so lange von Ihrer Familie getrennt zu sein.«
»Das kann man sagen. Es gibt nichts Schöneres, als nach Hause zu kommen. Meine Kinder sind natürlich alle schon erwachsen. Trotzdem freue ich mich. Wir haben fünf Enkel«, fügte er hinzu und lächelte voller Stolz.
Ich lächelte zurück, und dann dachte ich daran, daß Mama auch bald ein Enkelkind haben würde, sich aber bestimmt nicht so darüber freute wie dieser Mann. Ihr Enkelkind war von ihrem neuen Ehemann gezeugt worden. Die krankhaft verzerrte und finstere Welt von Farthy würde mein Baby für alle Zeit verfolgen. Das war fast ein Grund, es nicht zu behalten.
Aber vielleicht konnte ich eine andere Welt finden, eine Welt, die vollkommen anders als Farthy war, und vielleicht konnte ich mein Kind in diese Welt mitnehmen. Könnte ich es doch nur, könnte ich es doch nur, könnte ich es doch nur. Zum Rhythmus der Räder sagte ich es immer wieder vor mich hin wie ein stummes Gebet. Dann lehnte sich mein Magen vor Hunger auf.
»Ich denke, ich sollte etwas frühstücken«, meinte ich und stand auf.
»Ich kann auf Ihre Puppe aufpassen«, bot sich der Herr an.
»O nein, Sir. Wohin ich auch gehe, ich nehme sie immer mit«, sagte ich. »Und außerdem ist sie genauso hungrig wie ich.«
Er lachte, und ich ging, um den Speisewagen zu suchen.
Der Mann war schon ausgestiegen, als ich zurückkam. Die nächsten dreieinhalb Stunden verbrachte ich allein und sah aus dem Fenster. Als ich die Durchsage hört, daß wir in Kürze Atlanta erreichten, fing mein Herz wieder an zu pochen. Die erste Etappe meiner langen, traurigen Reise war vorüber. Ich war weit weg von Farthy, und inzwischen
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