Dunkle Umarmung
war Mama mit Sicherheit außer sich vor Wut. Ich fragte mich, was sie unternehmen würde. Ob sie die Polizei verständigte, oder hatte sie Angst vor einem Skandal? Versuchte sie, mit Tony in Europa Kontakt aufzunehmen?
Eins war sicher, dachte ich, sie würde ihre Wohltätigkeitsveranstaltung auf Farthy nicht abbrechen.
Niemand, der zu Besuch kam, hätte ihrem Gesicht ansehen können, daß etwas nicht stimmte, und sie hatte sicherlich das Personal angewiesen, niemandem gegenüber auch nur ein Wort über die Ereignisse zu erwähnen.
Ich blieb einen Moment lang auf dem Bahnsteig stehen und las alle Schilder, die den Fahrgästen Auskunft darüber gaben, wo sie welche Anschlüsse bekamen. Der Bahnhof von Atlanta war größer als der in Boston, und es schienen riesige Menschenmengen durch die Gegend zu eilen. Ich fand einen Informationsschalter in der großen Schalterhalle und zeigte der jungen Frau, die dort saß, meine Fahrkarte.
»Sie müssen dort drüben nach links abbiegen und dann gleich wieder nach rechts. Sie werden die Schilder sehen, aber Ihr Zug fährt nicht vor acht Uhr heute abend ab.«
Ich kaufte mir eine Illustrierte, bevor ich auf den richtigen Bahnsteig ging. Er war wesentlich breiter und länger als der Bahnsteig in Boston. Gleich rechts daneben war ein kleiner Wartesaal, und ich ging direkt darauf zu und setzte mich ziemlich weit hinten auf eine Bank. Dann zählte ich mein Geld. Ich hatte nicht mehr viel übrig und hoffte, daß es noch für ein Mittag- und ein Abendessen ausreichte.
»Ich wette, daß ich einen der Eindollarscheine in einen Fünfdollarschein verwandeln kann«, sagte jemand, und als ich aufblickte, sah ich in die leuchtendsten schwarzen Augen, die ich je gesehen hatte. Der junge Mann, der vor mir stand, hatte dichtes dunkles Haar, das wie Ebenholz schimmerte, und seine Haut war gebräunt. Er war groß, sah gut aus und hatte breite Schultern, die die Nähte seines dünnen, kurzärmeligen Hemds zu sprengen schienen.
»Wie bitte?«
»Du brauchst mir nur einen dieser Dollarscheine einen Moment lang anzuvertrauen, und dann zeige ich es dir«, sagte er und setzte sich neben mich. Ich weiß nicht, warum ich es tat, aber ich reichte diesem Jungen einen meiner wertvollen Dollarscheine. Ich wußte, daß arglose Reisende, insbesondere junge Mädchen wie ich, Opfer von Schwindlern und Gaunern werden konnten. Aber er gefiel mir.
Soweit ich sehen konnte, hatte er nichts in den Händen, und er hatte auch keine langen Ärmel, unter denen er etwas verbergen konnte. Er faltete meinen Dollar vor meinen Augen sorgsam, sooft es ging. Dann schloß er die Hand darum und drehte sie um, und ich konnte nur noch seine geschlossene Faust von oben sehen. Er hielt sie vor mich hin und lächelte.
»So, und jetzt berühre meine Hand«, forderte er. Seine Augen funkelten vergnügt.
»Ich soll deine Hand berühren?« Er nickte. Ich legte einen Finger auf den Knöchel seines Mittelfingers und zog ihn schnell wieder zurück. Er lachte.
»Du wirst dir die Finger schon nicht verbrennen, aber es hat genügt«, sagte er und drehte seine Hand um. Die Handfläche wies jetzt wieder nach oben. Dann faltete er vor meinen Augen den Schein auseinander, und es stimmte wahrhaftig – es war ein Fünfdollarschein!
»Wie hast du das gemacht?« fragte ich mit aufgerissenen Augen.
Er zuckte mit den Achseln. »Zauberei, was sonst? Jedenfalls hat es geklappt, und jetzt nimm deine fünf Dollar«, sagte er und reichte mir den Schein. »So, wie du dein Geld bis auf den letzten Penny gezählt hast, sieht es ganz danach aus, als könntest du vier Dollar mehr gebrauchen«, sagte er.
»Ach, ja?« Mein Gesicht wurde glutrot. »Ich bin es jedenfalls nicht gewöhnt, Geld von Fremden anzunehmen, noch nicht einmal Zaubergeld«, erwiderte ich und drückte ihm den Fünf dollarschein wieder in die Hand.
»Na gut, dann bin ich eben kein Fremder«, sagte er. Er lehnte sich zurück und hielt die Hände mit den Handflächen nach oben vor sich hin. »Ich heiße Thomas Luke Casteel, aber so ziemlich alle nennen mich einfach Luke. Und wer bist du?« Er hielt mir die Hand hin.
Ich starrte ihn an und wußte nicht, ob ich lachen oder aufstehen und weggehen sollte. Er sah zu gut aus, um ein Betrüger zu sein, fand ich; oder besser gesagt, ich hoffte es.
»Leigh van Voreen.« Ich drückte ihm die Hand.
»Siehst du, jetzt sind wir keine Fremden mehr, und du kannst das Zaubergeld behalten.«
»Ich brauche es wirklich nicht. Ich habe genug, um mein Ziel
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