Dunkle Umarmung
mehreren Orten zu Hause«, erzählte ich. »Ich bin in Boston aufgewachsen, aber ich habe außerhalb von Boston gewohnt.«
Er nickte. »Klingt, als hättest du recht.«
»Was soll das heißen?«
»Du hast es nicht nötig, daß ich deinen Einer in einen Fünfer verwandle«, sagte er verdrossen. Ich starrte ihn einen Moment lang an und schüttelte dann den Kopf.
»Doch, ich kann ihn gut gebrauchen«, gestand ich.
Seine Augen drückten Interesse aus. »Wieso?«
»Ich habe nicht genug Geld mitgenommen, als ich weggegangen bin. Ich hatte keine Ahnung, wieviel eine Fahrkarte kostet.«
Er nickte nachdenklich. »Wahrscheinlich bist du überstürzt abgereist. Stimmt das?« fragte er, doch ich schaute ihn nicht an. »Sag mal, was ist das, was du so fest an dich preßt?« Er beugte sich vor, um Angel besser sehen zu können. »Eine Puppe!« rief er erstaunt.
Meine Augen sprühten Funken. »Das ist nicht einfach irgendeine Puppe; es ist eine ganz besondere Puppe, ein Sammlerstück. Es ist ein Kunstwerk«, sagte ich mit scharfer Stimme.
»Ach so, ich verstehe. Entschuldige, bitte. Darf ich sie mir mal genauer ansehen? Ich verspreche dir auch, daß ich vorsichtig mit ihr umgehe.«
Ich sah ihn fest an. Er machte einen so aufrichtigen Eindruck, daß ich ihm Angel reichte. Er nahm sie behutsam entgegen und betrachtete ihr Gesicht. Dann pfiff er durch die Zähne.
»Du hast recht. Das ist wirklich ein Kunstwerk. Ich habe noch nie eine Puppe gesehen, die so liebevoll bis in alle Einzelheiten gearbeitet ist.« Er ließ sie sinken und musterte mich. Dann sah er die Puppe wieder an. »Warte mal. Diese Puppe sieht dir sehr ähnlich.«
»Das soll sie auch«, erwiderte ich und nahm sie behutsam an mich. »Ich… ich habe dafür Modell gestanden.«
»Ach, das ist ja wirklich etwas ganz Besonderes, und auch die Kleider scheinen ziemlich fein zu sein.«
»Das sind sie auch.«
»Na, das erklärt doch, warum du dich an deine Puppe klammerst, als hinge dein Leben davon ab.«
»Ich klammere mich nicht an sie, als ginge es um mein Leben«, versetzte ich.
Er lachte wieder. Wenn er lächelte, trat ein warmer Glanz in seine Augen. Nichts an seinem Lächeln war höhnisch, anzüglich oder gekünstelt; es ließ sich nicht mit Tonys hämischem Spott vergleichen. Lukes Lächeln wärmte mich und gab mir ein Gefühl von Sicherheit.
»Ich wollte dich doch nur aufziehen. Und wohin mußt du von hier aus fahren?«
»Nach Texas. Dallas.«
»Das ist noch weit. Wann fährt dein Zug ab?«
»Leider erst um acht Uhr abends.«
»Um acht Uhr abends! Das sind ja noch endlose Stunden. Du kannst doch nicht die ganze Zeit hier sitzen bleiben. Hier ist es staubig und schmutzig und laut. Kennst du denn niemanden in Atlanta?« Ich schüttelte den Kopf, und er dachte einen Moment nach. »Hättest du Lust, dir den Zirkus anzusehen? Ich kann dich umsonst reinbringen. Die Zeit würde schneller vergehen, und später kann ich dich wieder zum Bahnhof bringen.«
»Ich weiß nicht so recht. Ich…«
»Warst du je in einem Zirkus?«
Ich dachte nach. Als kleines Mädchen war ich einmal in Europa im Zirkus gewesen, aber ich konnte mich kaum noch daran erinnern.
»Nein«, sagte ich.
»Dann ist die Sache doch entschieden«, rief Luke und schlug die Hände zusammen. »Komm schon.« Er griff nach meinem Koffer. Ich blieb sitzen. »Komm schon, ich tue dir nichts, und es wird dir Spaß machen.«
Ich überlegte mir sein Angebot. Ich mußte wirklich noch schrecklich lange warten, und er sah nett aus und war so freundlich. Warum denn nicht? entschied ich und stand auf.
»Prima. Ich habe gerade einen Freund zum Bahnhof gebracht und wollte mich eben auf den Rückweg machen«, erklärte er mir, als er mich aus dem Bahnhof führte. »Der Zirkus ist nicht weit von hier. Er bleibt nur noch zwei Tage hier und zieht dann weiter nach Jacksonville.«
»Das klingt, als würdet ihr viel herumreisen«, bemerkte ich.
Er schritt zielstrebig und selbstsicher durch den Bahnhof. Ich bewunderte ihn dafür, daß er in seinem Alter schon so selbstbewußt war. Ganz anders als Joshua. Als wir aus dem Bahnhof kamen, führte er mich auf den Parkplatz und deutete auf einen zerbeulten hellbraunen Kleinlaster.
»Das ist mein Rolls-Royce«, sagte er. »Toll ist er nicht, aber er bringt mich überall hin. Ich wette, du bist schickere Fahrzeuge gewöhnt«, fügte er hinzu und zwinkerte.
Ich gab keine Antwort. Er hielt mir die Tür auf, und ich stieg ein. Auf dem Boden lagen drei leere
Weitere Kostenlose Bücher