Dunkle Umarmung
versammelt hatte, um die heimkehrenden Passagiere zu begrüßen.
Zahlreiche Taxis, Limousinen und Privatfahrzeuge standen bereit. Auf den Decks winkten Passagiere und riefen anderen etwas zu, die Hüte und Taschentücher schwenkten, Fotos machten und ihnen ebenfalls etwas zuriefen. Ich hielt nach Mama Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken.
Schließlich sah ich einen unserer Wagen, aber nur Paul Roberts, der Fahrer, den wir häufig beschäftigten, stand neben dem Wagen und wartete.
»Holt Mama mich denn nicht ab, Daddy?«
»Ich habe schon geahnt, daß sie Paul mit dem Wagen schicken könnte. Sie ist nicht gerade wild darauf, mich zu sehen.«
»Aber was ist mit mir! Sie sollte hier sein, wie die Verwandten von allen anderen Passagieren.«
»Sie will nur vermeiden, daß es zu einer Szene kommt«, erklärte Daddy. Sogar jetzt verteidigte er sie noch. Wenn sie nur wüßte, wie sehr er sie wirklich liebte. Ich war entschlossen, es ihr klarzumachen.
»Und du kommst jetzt gar nicht mit nach Hause, Daddy?«
fragte ich leise.
»Nein, ich habe noch einiges zu erledigen. Geh du schon nach Hause. Ich komme dann später vorbei.«
Wieder dieses Wort »vorbeikommen«.
Ich nickte eilig. Als das Schiff endlich vor Anker gegangen war und die Leute von Bord gehen durften, wandte ich mich an Daddy. Er schloß nur die Augen, schlug sie wieder auf und nickte dann.
»Geh schon«, sagte er leise. »Ich komme allein zurecht.«
»Daddy.« Meine Kehle schnürte sich zu. Er wies noch einmal mit einer Kopfbewegung zum Ausgang. Ich sah, daß er sich selbst anstrengen mußte, um die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren. Er küßte mich schnell auf die Wange, und dann sprang ich zur Tür und lief an Deck.
Es war ein leicht bewölkter Morgen, doch mir erschien er unfreundlich und grau. Die Meeresluft kam mir auf den Wangen wie der Atem eines Schneemanns vor, der die warmen Tränen augenblicklich kalt werden ließ. Ich zog meinen Mantel enger um mich und ging auf die Gangway zu, als ich spürte, daß jemand an meinem Ärmel zupfte.
Es war Clara Spenser, und hinter ihr stand ihre Schwester Melanie. Ihre Eltern folgten ihnen, und alle drängten sich dicht zusammen und waren so lieb zueinander. Die Hand der Mutter lag auf Claras Schulter, die Hand des Vaters auf Melanies.
»Auf Wiedersehen, Leigh«, sagte Clara. »Wir werden dir schreiben.«
»Auf Wiedersehen. Ich schreibe auch«, rief ich und wandte mich ab. Ich wollte vor ihnen davonlaufen.
»Leigh!« rief Clara hinter mir her. »Es hat ja Spaß gemacht, aber ist es nicht wunderbar, wieder zu Hause zu sein?«
Ich winkte nur und lief so schnell wie möglich auf den Wagen zu. Mein Gepäck war schon eingeladen worden.
»Ist alles in Ordnung mit meiner Mutter?« fragte ich.
Vielleicht war sie so bestürzt über das, was sie angerichtet hatte, daß sie krank zu Hause im Bett lag.
»O ja. Sie hat mich heute morgen angerufen, und es klang ganz so, als ginge es ihr gut. Du kannst von Glück sagen, daß du nicht hier warst; in der letzten Woche ist es hier schrecklich kalt gewesen. War es denn schön?« fragte er, als ich nichts darauf erwiderte.
»Ja«, sagte ich und drehte mich um, als wir losfuhren. Ich konnte Daddy sehen, der auf der Brücke stand und mit Captain Wilshaw redete, doch mitten im Satz unterbrach er sich und schaute in meine Richtung. Ich winkte ihm durchs Fenster. Er hob langsam die Hand und hielt sie hoch wie eine Fahne, mit der er kapitulierte und sich geschlagen gab.
Clarence kam aus dem Haus, um mich zu begrüßen und mein Gepäck zu holen, sobald wir vor dem Haus vorfuhren, doch von Mama war nirgends etwas zu sehen. Ich stürzte ins Haus und rief nach ihr, schrie nach ihr.
»Mama! Mama! Wo bist du?«
Clarence kam mit meinem Gepäck hinter mir her.
»Mrs. van Voreen ist heute morgen an die Küste gefahren«, sagte er. »Sie ist noch nicht zurückgekommen.«
»Was? An die Küste? Aber… wußte sie denn nicht, daß ich heute vormittag ankomme?« schrie ich ihn an. Clarence schien die Heftigkeit, mit der ich Antworten auf meine Fragen verlangte, zu erschüttern.
»Ich bringe jetzt Ihr Gepäck auf Ihr Zimmer, Miß Leigh.« Er stieg die Stufen hinauf. Einen Moment lang blieb ich verwirrt stehen. Mein Blick fiel auf die Tür zu Daddys Büro. Jetzt wird er es nicht mehr benutzen, dachte ich, und Tränen stiegen in meine Augen. Was würde Mama jetzt tun – es einfach absperren? Ich wußte, daß sie diesen Raum haßte.
Aber für mich war er plötzlich so
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