Dunkle Umarmung
strahlender geworden war, seit sie Daddy und mich verlassen hatte. Sie wirkte angeregt, belebt und voller Energie, und ihre Augen strahlten. Ihr zartes goldenes Haar glänzte seidig unter der weißen Fellmütze. Sie trug ihren weißen Nerz, den Daddy aus Rußland hatte importieren lassen. Ihre Wangen waren so rosig, als hätte die kühle Novemberluft sie gestreichelt. Erst jetzt wurde mir klar, wie sehr ich mir gewünscht hatte, sie kränklich und bleich vorzufinden.
Ihre überschäumende Lebensfreude und ihr strahlendes Aussehen verschlugen mir die Sprache. Nein, Mamas Gesicht war nicht ausgezehrt, ihre Augen waren nicht blutunterlaufen und verweint, sondern sie wirkte viel eher wie jemand, der aus einem dunklen und grausigen Burgverlies befreit worden ist.
Sie legte das Erstaunen und die Traurigkeit auf meinem Gesicht vollkommen falsch aus.
»O Leigh, es tut mir leid, daß ich nicht da war, als du gekommen bist, aber der Verkehr war einfach unglaublich.«
Sie lächelte, als erwartete sie, daß ich alles Schreckliche, was geschehen war, auf der Stelle vergaß.
»Warum bist du nicht zum Hafen gekommen? Wo warst du?«
»Wo ich war? Ich war auf Farthy«, trällerte sie und ging auf ihre Suite zu. »Du weißt ja, wie unvorhersehbar die Anlegezeiten sind… eine halbe Stunde Verspätung, eine ganze Stunde Verspätung. Es war mir unmöglich, in diesem stickigen Automobil festzusitzen und zu warten.« Sie drehte sich noch einmal kurz um, um mich anzulächeln. »Ich dachte, dir macht das doch sicher nichts aus, und an der Küste war es heute viel angenehmer«, sagte sie, als sie ihre Mütze absetzte und ihren Mantel auszog. »Dort ist ganz blauer Himmel«, fügte sie noch hinzu und warf ihren Mantel über einen der Rokokostühle.
»Aber mir kommt der Himmel dort immer blau vor, selbst dann, wenn er grau ist«, flüsterte sie, und sie ließ die Worte wie den Text eines Liebesliedes klingen.
Dann ließ sie sich auf ihr Bett fallen, breitete die Arme aus und wippte auf der Matratze herum. So ausgelassen hatte ich sie noch nie erlebt. Sie schien Jahre jünger zu sein. Ihre Augen strahlten verschmitzt, als sie lächelnd zur Decke aufsah. Ich stand sprachlos da und starrte auf sie herunter. Ahnte sie etwa nicht, daß Daddy mir alles gesagt hatte? Konnte das möglich sein?
»Daddy hat mir von deinem Telegramm erzählt«, platzte ich heraus.
Sie sah zu mir auf, ihr Lächeln verblaßte allmählich, und das Strahlen in ihren Augen erlosch. Die Lebhaftigkeit und die Freude schwanden von ihrem Gesicht. Es war, als kehrte sie auf die Erde zurück, zurück in die Wirklichkeit. Ihre Augen wurden kalt und ihre Lippen schmal. Sie holte tief Luft und setzte sich langsam und unter größter Anstrengung auf. Dann zog sie sich die Nadeln aus dem Haar und ließ es über ihre Schultern fallen.
»Er hätte es mir überlassen sollen, dir das zu sagen«, sagte sie mit beachtlicher Ruhe. »Aber das wundert mich nicht. Ich bin sicher, daß er alles ganz schrecklich geschildert hat, und gewiß klang es ganz nach einem geschäftlichen Fehlschlag. Was hat er dir gesagt, daß unsere Ehe bankrott ist?«
»O nein, Mama. Daddy hat es das Herz gebrochen«, rief ich.
Sie verzog das Gesicht, stand auf und setzte sich an ihre Frisierkommode.
»Bist du wirklich nach Mexiko geflogen und hast die Scheidung eingereicht?« Irgend etwas in mir war dumm und kindisch genug, um entgegen allen Erwartungen doch noch zu hoffen, daß vielleicht alles gar nicht wahr war.
»Ja, Leigh, das habe ich getan. Und ich bereue es kein bißchen.« Ihre Worte kamen mir vor wie Nadeln, die überall in meinen Körper stachen.
»Aber warum hast du das getan? Wie konntest du das tun?«
schrie ich meine Mutter wütend an. Ich haßte sie dafür, wie wenig es ihr auszumachen schien, was sie mir mit ihrer egoistischen Entscheidung angetan hatte. Sie saß da und drehte sich zu mir um.
»Leigh, ich hatte gehofft, daß du inzwischen erwachsen genug bist«, sagte sie ruhig, aber fest. »Ich wollte das schon seit einer ganzen Weile tun, aber ich habe mich zurückgehalten, bis ich glaubte, daß du dich vernünftig benehmen könntest. Ich habe deinetwegen Monate, nein, Jahre des Leidens auf mich genommen.« Sie schüttelte den Kopf, als sei es ihr gerade gelungen, eine schrecklich schwere Last abzuwerfen.
»Ich verstehe es aber nicht«, zischte ich. »Und ich werde es auch nie verstehen. Niemals.« Ich hoffte nur, daß meine Worte sie wie Dolche trafen. Sie zog die Schultern
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