Dunkle Umarmung
ehrfurchtgebietend wie eine Kirche. Ich trat ein und sah mir Daddys Sachen an. Ich atmete die Gerüche ein – das Aroma seines Tabaks hing noch in der Luft, aber auch der Geruch nach Treibholz und alten Möbelstücken. Hier war zwar vieles abgenutzt, aber ich fand alles schön, weil es mit Daddy zu tun hatte.
Vor meinen Augen konnte ich ihn über den Schreibtisch gebeugt dasitzen sehen, und die dünne Rauchsäule stieg aus dem geschnitzten Pfeifenkopf auf, der ersten Pfeife, die sein Vater ihm geschenkt hatte. Auf der vorderen rechten Ecke seines Schreibtischs stand ein Modell der Jillian. Er war so stolz auf sie gewesen, daß er sie nach Mama benannt hatte. Der Rest seines Schreibtischs wirkte so vollgepackt und unaufgeräumt wie sonst. Dieser Anblick munterte mich auf, denn das hieß, daß er bald zurückkommen mußte, um seine wichtigsten Papiere zu holen.
Ich trat in den Gang hinaus und stieg langsam die Treppe hinauf. Clarence kam gerade die Stufen herunter. Er schien es eilig zu haben, mir zu entkommen.
»Es ist alles in Ihrem Zimmer, Miß Leigh.«
»Danke, Clarence. – Ach, Clarence«, rief ich ihm nach, als er schon an mir vorbeigegangen war.
»Ja?«
»Hat meine Mutter irgend etwas hinterlassen, wann sie zurückkommt?«
»Nein.«
»Danke, Clarence.« Ich stieg weiter nach oben und ging in mein Zimmer.
Wie anders meine Welt sich mir jetzt doch darstellte. Ich hatte es so eilig gehabt, wieder nach Hause zu kommen, wieder in meinem eigenen geliebten Zimmer zu sein und in meinem eigenen Bett zu schlafen und die Stofftiere im Arm zu halten, die mir im Lauf der Jahre geschenkt worden waren. Ich hatte mich darauf gefreut, meine Freundinnen anzurufen und in Erfahrung zu bringen, was ich alles verpaßt hatte, während ich fort war. Ich hatte ihnen von Fulton und Raymond erzählen wollen, von den Veranstaltungen und den Bällen an Bord, aber auch, daß mich ein Junge geküßt hatte und daß beide ihre Adressen mit mir ausgetauscht hatten. Aber nichts von alldem zählte jetzt; nichts war mehr von Bedeutung.
Es kam mir vor, als sei ich hypnotisiert worden. Mechanisch packte ich meine Sachen aus und sortierte meine Kleider in solche, die gereinigt und gewaschen werden mußten, und die, die ganz frisch waren. Dann setzte ich mich benommen auf mein Bett. Endlich stand ich aus reiner Neugier und Langeweile auf und ging in Mamas Suite.
Auf ihrem großen Frisiertisch standen Unmengen von Cremes und Schminksachen, und ihre Kämme und Bürsten lagen dort.
Und das Hochzeitsfoto, auf dem sie und Daddy zu sehen waren, hatte sie nicht weggeräumt! Sie waren beide noch da, in diesen stabilen Goldrahmen eingefaßt, und beide sahen jung und glücklich aus. Mama war so schön, und Daddy sah so gut und elegant aus.
Das Wort »Scheidung« hatte einen ganz geheimnisvollen Klang für mich. Ich hatte mir irgendwie vorgestellt, da Mama jetzt von Daddy geschieden war, sei das Haus selbst irgendwie anders.
Ich wollte Mamas Suite gerade wieder verlassen, als ich im Wohnzimmer stehenblieb, weil irgend etwas auf Mamas Schreibtisch mir ins Auge fiel. Es sah aus wie ein Stapel Bücher, in denen Muster von einer Druckerei verschickt wurden. Wir hatten in absehbarer Zeit nichts zu feiern, niemand hatte Geburtstag, und mit Sicherheit gab es keine Jahrestage wie den Hochzeitstag meiner Eltern zu feiern. Was tat Mama hier: Hatte sie etwa vor, ihre Scheidung allgemein bekanntzugeben? Ich trat an den Schreibtisch und schlug den ersten Musterkatalog auf.
Im ersten Moment konnte ich mir keinen Reim darauf machen, doch mein Herz verstand schneller als meine Gedanken, denn es fing an, so heftig zu schlagen, daß mir der Atem stockte. Mein Herzschlag dröhnte wie Donner durch meinen Verstand. Ich blätterte die Kataloge einzeln durch. In allen war ausnahmslos das gleiche.
Es waren samt und sonders Muster für Einladungen zu einer Hochzeit!
6. KAPITEL
EINE NEUE BESTE FREUNDIN
Es dauerte noch Stunden, bis Mama nach Hause kam. Ich ging in mein Zimmer und wartete und wartete, bis ich sie ins Haus kommen hörte. Ihr Lachen kam ihren Schritten auf der Treppe vorausgeeilt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie so fröhlich und guter Dinge sein konnte. Unsere Welt zerbröckelte, und ihre Stimme sprudelte so heiter und musikalisch, als sei heute Weihnachten oder ihr Geburtstag.
Ich kam in dem Moment aus meinem Zimmer, in dem sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatte.
Sie war so schön wie eh und je, wenn ihre Schönheit nicht sogar noch
Weitere Kostenlose Bücher