Dunkle Umarmung
Spielsachen erzählte, die Tony ihm zu Weihnachten versprochen hatte. Er sprang von einem Thema zum nächsten, und irgendwann zwischendurch erzählte er mir eine Geschichte, die ihm Ryse Williams über einen kleinen Jungen in New Orleans erzählt hatte, der eine Zauberflöte besaß. Er nannte Ryse immer wieder »Rye«, und als ich ihn fragte, warum er das tat, sagte er, er hätte gehört, daß die anderen Hausangestellten ihn so nannten.
»Sie haben gesagt, er heißt Rye Whisky und nicht Ryse Williams.«
»Rye Whisky? So nennst du ihn doch nicht etwa, oder?«
»Nee, nee«, sagte er, und dann sah er die Haustür an und gestand: »Doch, aber nur, wenn Tony nicht dabei ist. Der mag das nämlich nicht.«
»Ich verstehe. Dann solltest du es aber vielleicht auch dann nicht tun, wenn Tony nicht dabei ist.«
Er zuckte mit den Achseln. Dann leuchteten seine Augen auf, als er eine neue Idee hatte. Er ließ seinen Silberlöffel fallen und trat von dem Schneemann zurück.
»Wir brauchen ein paar Zweige von der Hecke, damit wir dem Schneemann Kleider machen können. Das muß sein, Leigh.«
»Von der Hecke?«
»Mhm. Boris stutzt ständig die Hecken im Irrgarten, und da liegen Stücke von der Hecke rum. Wir müssen uns ein paar davon holen, ja? Bitte. Ja?«
Ich seufzte. Mir war schon kalt, und die Schneeflocken fielen ständig schneller und dichter. Ein Spaziergang würde uns beiden guttun, dachte ich.
»Einverstanden.«
Er packte meine Hand, die in einem Fäustling steckte, und führte mich vom Haus fort.
»Ich zeige dir den Weg. Du brauchst dich nicht zu fürchten.
Ich zeige dir den Weg.«
»Schon gut, schon gut. Aber lauf nicht so schnell, Troy. Dein Schneemann wird nicht schmelzen. Soviel steht fest.«
Ich sah mich nach dem Haus um, weil ich die Stimmen von zwei Frauen hörte, die in Tonys Büros in Boston arbeiteten und hier als Brautjungfern agierten. Sie sprachen über Mama, als sie zu ihrem Wagen liefen.
»Sie war mit einem Mann verheiratet, der alt genug war, um ihr Großvater zu sein«, sagte die eine. »Ich habe gehört, er ist schon senil, dieser Greis, und ihm ist gar nicht klar, daß sie ihn verlassen hat.«
»Der einzige Grund, aus dem eine solche Frau einen so alten Mann heiratet, ist das Geld.«
»Na, um Geld braucht sie sich jetzt jedenfalls keine Sorgen mehr zu machen«, sagte die erste Frau. »Und jetzt hat sie noch dazu einen blendend aussehenden Mann. Ganz schön gerissen, diese Frau.« Sie lachten beide und stiegen in ihren Wagen.
Trotz der Kälte und des Schneefalls glühte mein Gesicht vor Zorn. Ich wäre am liebsten zu dem Wagen gelaufen und hätte gegen die Scheiben gepocht. Sie machten sich über meinen Vater lustig. Wie konnten sie das wagen? Wer hatte ihnen bloß eine solche Geschichte erzählt? Sie hatten es nicht verdient, zur Hochzeitsgesellschaft eingeladen zu werden. Eifersüchtige, neidische, gehässige Klatschmäuler…
»Komm schon, Leigh«, sagte Troy und zog mich voran.
»Was? Ach so, ja.« Ich folgte ihm und drehte mich noch einmal um, um den Wagen abfahren zu sehen.
Wir blieben am Eingang des Irrgartens stehen.
»Ich sehe keine abgeschnittenen Zweige, Troy. Laß uns umkehren.«
»Nein, es gibt immer welche. Wir gehen ein Stückchen weiter hinein und suchen danach, einverstanden?« bettelte er.
»Dein Bruder will nicht, daß wir in den Irrgarten gehen, Troy.«
»Das geht schon in Ordnung. Ich weiß, wie ich rein und wieder raus komme.«
»Ist das wahr?« Manchmal wirkte er so reif für einen kleinen Jungen, so selbstsicher.
»Tony wird schon nicht wütend. Tony wird doch jetzt dein Daddy.«
»Nein, das wird er ganz bestimmt nicht«, fauchte ich. Der kleine Troy blickte bestürzt auf. »Er heiratet meine Mutter, aber das macht ihn noch lange nicht zu meinem Daddy. Ich habe einen Daddy.«
»Wo ist er?« fragte Troy und zog seine kleinen Schultern hoch.
»Er arbeitet mit großen Schiffen, und er ist auf dem Meer.«
»Kommt er auch her?«
»Nein. Meine Mutter will nicht mehr mit ihm zusammenleben. Sie will mit deinem Bruder zusammenleben, und deshalb wohnen wir hier. Mein Vater wohnt woanders.
Man nennt das eine Scheidung, wenn Leute, die verheiratet sind, aufhören, verheiratet zu sein. Verstehst du das?«
Er schüttelte den Kopf.
»Um dir die Wahrheit zu sagen«, sagte ich bitter, »ich verstehe es auch nicht.« Ich sah mich wieder nach dem Haus um. Eine Schar von Tonys Freunden kam aus dem Haus; sie lachten und klopften einander auf die
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