Dunkle Visionen
seltsamen Stich. Er versuchte zu vergessen, wie sie am Nachmittag ausgesehen hatte, wie ihre Augen leidenschaftlich aufgeflammt waren, als sie versucht hatte, ihm zu erklären, dass sie das Leid anderer Menschen nicht mit ansehen könne, ohne zumindest den Versuch zu unternehmen zu helfen …
Wenn sie bloß diese verdammte Fähigkeit nicht mehr hätte. Er hatte gehofft, sie hätte inzwischen aufgehört, Dinge zu sehen. Vergebens, wie sich jetzt herausstellte.
Das Wiedersehen mit Madison gestaltete sich nicht leicht.
Er dachte an die Frauen, mit denen er seit Fallons Tod geschlafen hatte. Es war keine Frau darunter gewesen, die größere Gefühle in ihm erweckt hatte.
Es war leicht, mit einer Frau zu schlafen, wenn man nicht mehr als vage Sympathie für sie empfand.
Für Madison empfand er eine Menge mehr, aber selbst wenn sich ihre Wut genug abkühlte, dass es zu dem, wonach er sich im Augenblick am meisten sehnte, kommen könnte, durfte er es nicht zulassen. Dazu fühlte er zu viel für sie.
Je weiter der Abend fortschritt, desto weniger gelang es ihm, seinen Blick von ihr loszureißen. Im Augenblick nippte sie an ihrem Champagner.
Sparsam, wie er registrierte. Sie hielt sich mit dem Trinken zurück.
Darryl Hart war einer der letzten Gäste. Kyle stellte irritiert fest, dass er dem Mann eine unerklärliche Feindseligkeit entgegenbrachte – obwohl Darryl ihn mit einem herzlichen Händedruck begrüßte und aufrichtig an seinem Befinden interessiert zu sein schien.
Madison umarmte ihren Ex-Mann liebevoll und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Kyle, der sie beobachtete, fragte sich, woran ihre Ehe wohl gescheitert sein mochte. Sie schienen sich noch immer nahe zu stehen. Von außen betrachtet waren sie ein perfektes Paar. Darryl sah blendend aus und war gut gebaut – schließlich war er auf der High School und auf dem College ein Footballheld gewesen. Madison war strahlend schön. Wenn sie mit ihm sprach, lächelte sie viel. Beide schienen sie ihre Tochter abgöttisch zu lieben. Kyle wurde das Gefühl nicht los, dass Darryl noch immer sehr an seiner Ex-Frau hing. Und welche Gefühle brachte Madison ihm entgegen?
Was zum Teufel mochte sie auseinander gebracht haben?
Obwohl er darauf achtete, Abstand von Madison zu halten, stand er nah genug, um ein paar Gesprächsfetzen aufzuschnappen.
„Madison, in diesem Kleid musst du mir unbedingt Modell sitzen.“
Sein Vater.
„Madison! Es kostet Sie nicht mehr als ein Wochenende. Wir fliegen hin, schießen ein paar gute hübsche Fotos von Ihnen auf dem weißen Sandstrand von Cozumel und fliegen wieder zurück.“
Irgendein Werbefritze.
„Honey, ich weiß, dass Sie es ablehnen, mit Ihrem Namen oder Ihrer Herkunft hausieren zu gehen, aber wenn Sie uns für das Plakat des Kunstfestivals Modell stehen würden, würde das mit Sicherheit die Besucherzahlen mächtig in die Höhe treiben – und der Gewinn geht an Kinderheime, die das Geld gut brauchen können.“
Eine trotz ihres Alters noch immer attraktive silberhaarige Dame, offensichtlich eine Mäzenin.
„Kyle!“
Er drehte sich um.
Sein Halbbruder Rafe, eine blendende Erscheinung mit seinen blonden, von der Sonne ausgebleichten Haaren, den silbergrauen Augen und der sonnengebräunten Haut, kam mit einer zierlichen Brünetten am Arm auf ihn zu. „Kyle, ich möchte dir Sheila Ormsby vorstellen. Sheila spielt …“
„Bei den Storm Fronts“, beendete Kyle den Satz, während er der Frau die Hand schüttelte. Sie war sehr hübsch, mit Grübchen und einem breiten Lachen. Er schätzte sie auf Ende Zwanzig. Er hatte sie am Abend vorher in der Band, in der Madison sang, Keyboard spielen sehen.
„Ich hatte gestern Abend leider keine Gelegenheit, Sie kennen zu lernen“, sagte Sheila und ließ ihre hübschen Grübchen aufblitzen.
Sie waren entzückend.
„Ich hatte Madison lange Zeit nicht gesehen.“
„Ich habe es gehört. Rafe erzählte mir eben, dass Sie so eine Art verlorener Sohn sind, der wieder nach Hause zurückgekehrt ist.“
Kyle hob eine Augenbraue und schaute seinen Bruder forschend an. Rafe hob beredt eine Schulter.
Merkwürdigerweise schien seine Familie – und seine erweiterte Familie – schon den ganzen Abend erpicht darauf, ihm irgendwelche Frauen vorzustellen. Wahrscheinlich ergab sich das fast automatisch aus der Tatsache, dass er Witwer war.
„Freut mich, Sie kennen zu lernen, Sheila. Ich kann es nur bedauern, dass wir nicht schon gestern Abend das Vergnügen hatten. Wie lange machen
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