Dunkle Visionen
Marquesas Kameraverschluss klickte unentwegt, während er seine Anweisungen erteilte. Sie machten Außenaufnahmen auf einem kleinen Privatstrand in Key West, und während Jaime Madison mit seiner Kamera umkreiste, hielten sich seine Assistenten schweigend im Hintergrund, bereit, jedes Hindernis aus dem Weg zu räumen oder die Aluminiumplatten gegen die Sonne zu halten, wenn es nötig war.
Madison mochte Jaime, und sie arbeitete gern mit Michelle Michaux, einer einheimischen Modedesignerin, zusammen. Michelle, die haitianischer Abstammung war, hatte einen wundervollen weichen Akzent. Ihre Bademode war mittlerweile überaus populär. Doch obwohl sie in Florida festen Fuß gefasst hatte, fühlte sie sich ihren Landsleuten noch immer tief verbunden. Heute gaben sie, Jaime und Madison, ihr Bestes für eine Plakatkampagne zur Unterstützung der einheimischen Künstler und der Studenten, die beabsichtigten, eine Laufbahn in der Mode oder in der Kunst einzuschlagen. Michelle hatte die Kampagne entworfen. Das Thema hieß „Lasst uns träumen und unsere Träume verwirklichen“. Für Madison war die Tatsache, dass Darryl derzeit in Miami arbeitete und bestrebt war, seine gesamte Freizeit mit Carrie Anne zu verbringen, ein überaus glücklicher Zufall, weil sie so Zeit hatte, ein paar Tage ungestört an dem Projekt arbeiten zu können. Und der es ihr ermöglichte, einige Zeit von zu Hause wegzukommen.
Sie war neugierig gewesen, ob sie die Willenskraft aufbringen würde, Miami zu verlassen – obwohl Kyle da war. Aber wenn er und Jassy eine Affäre hatten, war für sie ohnehin kein Platz. Und falls sie die Zeichen falsch gedeutet haben sollte …
„Sand!“ brüllte Jaime unvermittelt – und unglücklich. Er schaute seinen jungen Assistenten Hector, einen attraktiven New Yorker nicaraguanischer Abstammung, auffordernd an. „Sand!“ wiederholte er.
Hector setzte sich in Bewegung und rannte mit seiner kleinen Bürste nach vorn, um auch noch das kleinste Sandkörnchen von Madisons Gesäß zu entfernen.
„Danke“, murmelte sie.
Er winkte mit einem lässigen Schulterzucken ab. „Ein Scheißjob, Madison, aber irgendjemand muss ihn schließlich machen.“
Sie lächelte ihn an. Er hatte nur Spaß gemacht. Er war Jaimes Liebhaber.
„Und ich kriege schon steife Arme, weil ich ständig diese verdammten Dinger hochhalten muss.“ George Nathan, Jamies zweiter Assistent, sagte es mit einem Aufseufzen, während er einen Blick auf einen Belichtungsmesser warf. George hatte sandfarbenes Haar und war schlaksig, er hatte kürzlich an der University of Miami seinen Abschluss gemacht. Er hatte bereits eine ganze Anzahl von Preisen für seine eigenen Fotografien gewonnen, aber er arbeitete mit Jaime, um von einem der Besten noch etwas dazuzulernen.
„Die richtigen Lichtverhältnisse sind wichtig“, versicherte Hector ihm. „Aber Sand abbürsten macht entschieden mehr Spaß.“
„Leute, wir arbeiten hier“, mischte sich Jaime mit einem theatralischen Aufseufzen ein. „Noch mal, Madison, derselbe Blick, schwül, verträumt … Okay, los jetzt, sie braucht die Tücher. Gut. Du spielst mit ihnen, Madison. Zeig uns, dass du Spaß hast. Renn mit ihnen, lass sie im Wind flattern. Wir wollen rüberbringen, dass Träume wie fein gesponnene Seide sind, dass sie schwerelos durch die Luft fliegen, dass sie sind, was wir aus ihnen machen … hast du mich verstanden? Lauf los, bring sie zum Tanzen …“
Sie tat, was er sagte. Jaime war gut, einer der Besten. Sie war sich sicher, dass er es schaffte, einer fünfhundert Pfund schweren Matrone das Gefühl zu vermitteln, sie brauche sich nur ein bisschen aufzutakeln, um genau wie Aschenputtel auf dem Weg zum Ball auszusehen. Es machte Spaß, mit den Seidentüchern zu spielen, sie im Wind flattern zu lassen und mit ihnen den Strand rauf- und runterzurennen. Aber es war auch harte Arbeit, weil – ungeachtet der Tatsache, dass es später Nachmittag war – die Sonne noch immer heiß vom Himmel brannte und Jaime entschlossen zu sein schien, sämtliche Filme zu verschießen, die er mitgebracht hatte. Sie waren schon den ganzen Tag hier draußen. Der Haarstylist und die Maskenbildnerin waren nach der letzten Pause gegangen, und Jaime hatte hoch und heilig versprochen, dass sie es in einer Minute geschafft hätten. Seine Vorstellung von einer Minute wich offensichtlich ein bisschen von der Norm ab, aber er holte das Beste aus ihr heraus, und sie wusste es.
Während einer kurzen Unterbrechung –
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