Dunkler Grund
wenden, sie würde mir nur das wenige rauben, das mir noch geblieben ist.« Sie lachte bitter. »Aber vielleicht bin ich auch zu müde für etwas, das soviel Lebenskraft verlangt.«
Alle möglichen Gedanken der Ermutigung gingen ihm durch den Kopf: Es sei noch nicht zu spät, sie könnten immer noch etwas Belastendes über ein Mitglied der Familie Farraline finden, um wenigstens Zweifel in den Geschworenen zu wecken, Monk sei scharfsinnig und skrupellos und werde niemals aufgeben, Callandra habe den besten Strafverteidiger Schottlands engagiert und er, Rathbone, werde ihn unterstützen, die Anklage stelle sich mit übergroßer Zuversicht häufig selber ein Bein. Doch nichts davon kam ihm über die Lippen. Jede dieser Wahrheiten war bereits gedacht und zwischen ihnen erörtert worden. Wenn er sie noch einmal in Worte faßte – jetzt, wo es zu spät war –, dann zeigte er damit nur, daß er nichts verstanden hatte.
»Wir fahren übermorgen«, sagte er statt dessen.
»Nach Edinburgh?«
»Ja. Ich darf nicht mit Ihnen fahren, sie werden es nicht erlauben. Aber ich sitze im selben Zug und bin mit dem Herzen bei Ihnen.« Kurz schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß es sich zu sentimental angehört haben könnte, aber er hatte genau das gesagt, was er meinte. Er würde alles mit ihr fühlen, die Scham, das körperliche Unbehagen, weil sie Handschellen tragen mußte und die Wärterin sie nicht einen Moment aus den Augen lassen würde, nicht einmal bei der Verrichtung der intimsten Bedürfnisse. Aber noch viel ungeheuerlicher war, daß sie beide wußten, es könnte Hesters letzte Reise sein, eine Reise ohne Rückkehr.
8
Rathbone hatte Monk in einem Brief mitgeteilt, welchen Zug er nehmen würde, allerdings ohne zu erwähnen, daß man auch Hester mit diesem Zug nach Edinburgh brachte. Deshalb rechnete er fest damit, Monk auf dem Bahnsteig zu sehen, als der Zug an einem grauen Morgen in den Waverly-Bahnhof einrollte. Und irgendwo im Hinterkopf hoffte er sogar, Monk hätte vielleicht ein paar überraschende Neuigkeiten, eine neue Spur etwa, die zu verfolgen sich lohnte. Es blieb nur noch sehr wenig Zeit, und sie hatten nichts in der Hand, außer ein paar Motiven für mögliche andere Täter, die ein erfahrener Staatsanwalt als böswillige, aus der Verzweiflung geborene Unterstellung vom Tisch fegen würde. Mit dem Koffer in der Hand stieg er aus und machte sich auf den Weg zu den Sperren. Das Gedrängel nahm er gar nicht wahr. Er freute sich nicht auf die Begegnung mit dem schottischen Anwalt James Argyll. Der Mann hatte einen phantastischen Ruf. Selbst in London sprach man seinen Namen mit Ehrfurcht aus. Wußte der Himmel, was Callandra ihm zahlte! Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß er Ratschläge von Rathbone annehmen würde, und Rathbone hatte keine Ahnung, ob er Hester für unschuldig hielt oder ob es ihm nur darum ging, in einem Prozeß aufzutreten, der große Beachtung finden würde – wegen des Opfers, nicht wegen der Angeklagten. Er stammte aus Edinburgh. Wahrscheinlich kannte er die Farralines, wenn nicht persönlich, dann vom Hörensagen. Wie stark würde der Mann sich engagieren? Wie ungeteilt wären seine Loyalität und sein Siegeswille?
»Rathbone! Rathbone, wo, zum Teufel, wollen Sie hin?« Rathbone drehte sich um, und vor ihm stand Monk, elegant gekleidet und mit grimmiger Miene. Ohne zu fragen wußte der Anwalt, daß es keine guten Nachrichten gab.
»Ich will Mr. James Argyll aufsuchen«, erwiderte Rathbone unfreundlich. »Unsere letzte Hoffnung, wie mir scheint.« Er hob die Augenbrauen. »Es sei denn, Sie haben etwas entdeckt, das Sie mir noch nicht mitgeteilt haben.« Es war der blanke Sarkasmus, und sie wußten es beide. Es war dieselbe Angst, die ihnen die Luft zum Atmen raubte. Beide hatten sie das Bedürfnis, dem anderen die Schuld daran zu geben.
Rathbone steuerte auf den Ausgang zu.
»Wann beginnt der Prozeß?« Monk hielt mit ihm Schritt.
»Worauf werden Sie die Verteidigung aufbauen?« fragte Monk, als er und Rathbone hinaus auf die Straße traten. »Da entlang«, fügte er hinzu und deutete auf die Treppe zur Princes Street.
»Ich verteidige sie nicht«, sagte Rathbone verbittert. »Das ist Argylls Sache.«
Monk wußte, was im Brief gestanden hatte, er kannte die Gründe, aber das änderte nichts an seiner Angst.
»Hat Hester denn gar nichts dazu zu sagen, um Himmels willen?« fragte er, als sie auf der Princes Street angekommen waren.
»Wie bitte?« Rathbone drehte sich
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