Dunkler Grund
rechnete, konnte man nur enttäuscht werden.
Imogen betrachtete sie aufmerksam. Sie verstand sie, wie nur eine andere Frau es vermochte. »Bist du verliebt in ihn?«
Hester war entsetzt. »Nein! Natürlich nicht! Ich will nicht sagen, daß er alles in sich vereint, was ich an einem Mann verachte, aber auf jeden Fall eine Menge davon. Natürlich ist er klug, das kann ich nicht bestreiten, aber manchmal ist er arrogant und grausam, und mit Freundlichkeit rechne ich erst gar nicht, oder damit, daß er die Schwächen der anderen nicht ausnutzt.«
Imogen lächelte. »Meine Liebe, ich habe nicht gefragt, ob du ihm vertraust oder ihn bewunderst oder auch nur magst. Ich wollte wissen, ob du verliebt in ihn bist, und das ist etwas ganz anderes.«
»Nein, bin ich nicht! Aber ich mag ihn… manchmal. Und…«, sie holte tief Luft, »und es gibt Situationen, da habe ich absolutes Vertrauen zu ihm. Wenn es um Ehre oder Gerechtigkeit geht oder um Mut! Er scheut weder Risiko noch Gefahr, um für seine Überzeugungen zu kämpfen.«
Imogen betrachtete sie mit einer Mischung aus Belustigung und Mitgefühl.
»Ich glaube, du beschreibst ihn mit deinen eigenen Tugenden, meine Liebe, aber das macht nichts. Wir alle tendieren dazu…«
»Das tue ich nicht!«
»Wenn du meinst.« Wenig überzeugt wechselte Imogen das Thema. »Und Mr. Rathbone? Den finde ich wirklich sehr nett. Er ist ein richtiger Gentleman, und zudem scheint er ein äußerst kluger Mann zu sein.«
»Und ob er das ist!« Sie hatte nie daran gezweifelt, und während sie es sagte, kehrte die Erinnerung an einen Moment seltsamer Vertrautheit zurück, aber sie war nicht sicher, ob sie sich seine Süße nicht bloß eingebildet hatte. Niemals hätte sie einen Mann auf diese Weise geküßt, ohne es ernst zu meinen. Aber sie kannte die Männer nicht gut genug. Vielleicht waren sie ganz anders. Alles, was sie von ihnen wußte, deutete darauf hin. Sie war von Selbstmitleid erfüllt, und auch wenn sie sich dessen schämte, sie konnte sich nicht dagegen wehren.
»Hester«, sagte Imogen mit ernster Stimme. »Du bist dabei, dich aufzugeben. Selbstmitleid paßt nicht zu dir, und wenn das alles vorbei ist, dann wirst du dich dafür hassen, daß du klein beigegeben hast.«
»Anderen kann man leicht Mut zusprechen«, sagte Hester und lächelte verlegen. »Aber wehe, man muß dem Tod selber ins Auge blicken. Auf einmal gibt es kein ›Danach‹ mehr.«
Imogen sah sehr blaß aus, die Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben, aber sie wollte nicht aufgeben. »Meinst du denn, daß dein Tod sich von dem anderer Menschen unterscheidet? Vom Tod der Soldaten, die du betreut hast?«
»Nein… nein, natürlich nicht. Das wäre überheblich und lächerlich.« Die Erinnerung an die schmerzverzerrten Gesichter und die zerstörten Körper der Soldaten kehrte zurück. Sie würde schnell sterben, ohne vorher verstümmelt oder von Wundfieber oder Ruhr gequält zu werden. Sie schämte sich ihrer Feigheit. Viele von ihnen waren jünger gewesen als sie, hatten noch viel weniger vom Leben gehabt.
Imogen zwang sich zu einem Lächeln, ihre Blicke begegneten sich für einen langen, intensiven Augenblick. Hester mußte ihren Dank nicht in Worte kleiden.
Imogen wußte, wann es an der Zeit war zu gehen. Sie wollte das Erreichte nicht durch triviales Gerede wieder zunichte machen. Schnell umarmte sie Hester, dann schritt sie mit rauschenden Röcken zur Tür und verlangte, hinausgelassen zu werden. Die Wärterin erschien. Verachtung stand ihr deutlich in das glänzende Gesicht mit den straff zurückgebundenen Haaren geschrieben, doch als Imogen ihrem Blick standhielt, ohne auszuweichen oder mit der Wimper zu zucken, wich die Verachtung einem respektvollen, beinahe bewundernden Ausdruck. Sie hielt ihr die Tür auf, und Imogen ging wortlos hinaus.
Der letzte Besucher in Newgate war Oliver Rathbone. Hester empfing ihn wesentlich gelassener als bei seinen früheren Besuchen. Sie konfrontierte ihn nicht mehr mit mühsam unterdrückten Gefühlen, doch das war für ihn kein Trost, sondern beunruhigte ihn.
»Hester! Was ist passiert?« wollte er wissen. Als die Zellentür sich geschlossen hatte und sie ungestört waren, ging er auf sie zu und nahm ihre Hände. »Hat jemand etwas gesagt oder getan, das Ihnen Kummer macht?«
»Warum? Weil ich mich nicht mehr fürchte?« sagte sie mit einem gespenstischen Lächeln. »Ich hatte so viel Zeit zum Nachdenken. Alle Angst der Welt könnte nichts zum Besseren
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