Dunkler Grund
danke Ihnen, daß Sie die weite Reise nicht gescheut und trotz Ihrer vielen Aufgaben die Zeit gefunden haben, um in diesem Fall eine Aussage zu machen, Miss Nightingale«, sagte er ernst.
»Auch die Gerechtigkeit ist wichtig, Sir«, erwiderte sie und sah ihm fest in die Augen. »Und in diesem Fall sogar eine Frage auf Leben und…«, sie zögerte, »… und Tod.«
»So ist es.«
Rathbone hatte ihn eindringlich davor gewarnt, sie am Gängelband zu führen oder sie auf Allgemeinplätze festnageln zu wollen. Gebe der Himmel, daß er es nicht vergessen hatte!
»Wir sind uns der Tatsache bewußt, daß die Einzelheiten dieses Falles Ihnen unbekannt sind, Ma’am«, fuhr Argyll fort.
»Aber die Angeklagte, Miss Hester Latterly, ist Ihnen, soviel ich weiß, aus Ihrer gemeinsamen Vergangenheit gut bekannt. Sehen Sie sich in der Lage, etwas zu ihrem Charakter zu sagen?«
»Ich kenne Hester Latterly seit dem Sommer achtzehnhundertvierundfünfzig«, antwortete Miss Nightingale.
»Und ich bin bereit, jede Frage zu ihrem Charakter zu beantworten, die Sie mir stellen.«
»Danke.« Argyll nahm eine entspannte Haltung ein, neigte den Kopf ein wenig. »Miss Nightingale, man hat viel darüber nachgedacht, warum junge Frauen aus guter Familie sich einen Beruf wie den der Krankenschwester suchen, der doch früher hauptsächlich von Frauen niederer Herkunft und, seien wir ehrlich, mit ziemlich rüden Umgangsformen ausgeübt wurde.«
Hinter Argyll rutschte Rathbone vor auf die Kante seiner Bank, sein ganzer Körper schmerzte vor Anspannung. Es herrschte Totenstille. Alle Geschworenen richteten den Blick auf Florence Nightingale, als wäre außer ihr keine Menschenseele im Saal.
»Vor der ehrenwerten Pionierarbeit, die Sie geleistet haben«, fuhr Argyll fort, »war es eine Arbeit, mit der man jene Frauen beschäftigte, die keinen Platz an einem heimischen Herd gefunden hatten. Wie war das bei Ihnen, wenn ich fragen darf, warum haben Sie sich einer so beschwerlichen und gefährlichen Aufgabe unterzogen? Waren Ihre Angehörigen damit einverstanden, daß Sie diesen Beruf wählten?«.
»Mr. Argyll!« unterbrach ihn der Richter verärgert und ruckte in einer abrupten Bewegung ein Stück vor.
»Nein, Sir, das waren sie nicht.« Florence ignorierte den Richter. »Sie waren entschieden dagegen, und es hat mich jahrelange Überzeugungsarbeit gekostet, bis sie ihn endlich akzeptiert haben. Aber ich habe mich ihrem Willen widersetzt, weil es eine höhere Pflicht gibt als den Gehorsam gegenüber der Familie.« Sie strahlte soviel schlichte, ungetrübte Überzeugung aus, daß auch der Protest des Richters verstummte. Jeder Mann und jede Frau im Saal, ob Geschworener oder Zuschauer, hörten ihr zu. Wenn der Richter noch etwas gesagt hätte, wäre es nicht beachtet worden, und das wollte er nicht riskieren.
Argyll wartete mit großen, erwartungsvollen Augen.
»Ich glaube, daß Gott mir diese Pflicht auferlegt hat, Sir«, fuhr sie fort. »Und diesem Ziel werde ich mein Leben widmen. Ich glaube, daß auch andere den Wunsch haben, ihren Mitmenschen zu dienen, und meine Überzeugung teilen, daß die Pflege der Kranken und Verwundeten eine der vornehmsten Arbeiten ist, dies zu tun. Es kann keine höhere Berufung geben und keine, die dringender benötigt wird, als Leid zu lindern und, wo es möglich ist, Männern, die für ihr Land gekämpft haben, das Leben und die Gesundheit zu erhalten. Können Sie daran zweifeln, Sir?«
»Nein, Madam, ich kann es nicht und werde es niemals tun«, versicherte Argyll.
Gilfeather wurde unruhig, als wollte er dazwischenfahren, aber seine Zeit war noch nicht gekommen und er hielt sich zurück.
Es kostete Rathbone äußerste Mühe, ruhig auf seinem Platz sitzenzubleiben.
»Und Hester Latterly hat im Lazarett von Scutari Dienst getan?« fragte Argyll. Sein Gesicht verriet nichts außer gemäßigtem Interesse, mochten im Innern auch noch so heftige Gefühle des Triumphs und der Erwartung brodeln.
»Ja, sie war dort eine unserer besten Krankenschwestern.«
»In welcher Hinsicht, Ma’am?«
»In vieler Hinsicht. Es gab zu wenig Chirurgen und zu viele Patienten.« Ihre Stimme klang ruhig und beherrscht, und doch schwangen soviel Intensität und Leidenschaft mit, daß jeder im Saal ihr aufmerksam zuhörte. »Um einem Mann das Leben zu retten, mußte eine Krankenschwester manchmal Dinge tun, die eigentlich Aufgabe der Chirurgen gewesen wären. Hester hatte sowohl den Mut als auch die Fähigkeit, so etwas zu tun. Es
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