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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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laufen eine Menge Männer in England herum, die wären längst auf der Krim begraben, wenn sie nicht so mutig gewesen wäre.«
    Argyll wartete ein paar Sekunden, damit ihre Worte den Geschworenen ins Bewußtsein dringen konnten.
    »Vielen Dank«, sagte er schließlich. »Und war sie auch persönlich so aufrecht, hat sie die Rechte und den Besitz der anderen geachtet?«
    »Absolut, immer und ohne Ausnahme«, erwiderte Florence. Argyll zögerte.
    Die Spannung war unerträglich. Rathbone wagte kaum zu atmen. Was Argyll als nächstes tat, konnte über Sieg oder Niederlage, über Leben oder Tod entscheiden. Nur er und Argyll wußten, was von diesem Augenblick abhing. Wenn es ihm gelang, Gilfeather dazu zu bringen, Florence Nightingale anzugreifen, dann würde sie mit einer Leidenschaft, mit einer emotionalen Kraft zurückschlagen, die alle seine Argumente vom Tisch fegen würde. Durchschaute er jedoch ihre Taktik, würde er sie nichts fragen, wäre der Wert ihrer Aussage für Hesters Verteidigung gleich Null.
    Argyll lächelte Florence Nightingale zu, dankte seiner Zeugin noch einmal für ihr Erscheinen und nahm seinen Platz wieder ein.
    Rathbone klopfte das Herz bis zum Hals. Der Saal schien sich um ihn herum zu drehen. Die Sekunden dehnten sich zu kleinen Ewigkeiten. Stuhlbeine schrammten über den Boden, als Gilfeather sich erhob.
    »Sie sind eine der meistgeliebten und angesehensten Frauen der Nation, Madam, und ich möchte Ihre Verdienste in keiner Weise schmälern«, tastete er sich vor. »Die Sache der Gerechtigkeit steht jedoch über dem Individuum, und es gibt ein paar Fragen, die ich Ihnen stellen muß.«
    »Gewiß«, sagte sie und hielt seinem Blick stand.
    »Miss Nightingale, Sie sagen, Miss Latterly sei eine sehr gute Krankenschwester und habe in Notsituationen Fähigkeiten bewiesen, die manchem Militärchirurgen zur Ehre gereicht hätten?«
    »Das ist richtig.«
    »Außerdem sei sie gewissenhaft, ehrlich und tapfer.«
    »Das ist sie.« Kein Zögern, nicht der geringste Zweifel trübte ihre Stimme.
    Er lächelte. »Also, Madam, wie kommt es dann, daß sie ihren Lebensunterhalt nicht in leitender Stellung in einem Krankenhaus verdient, wo sie diese bemerkenswerten Qualitäten zur Anwendung bringen könnte, sondern mit dem Nachtzug von London nach Edinburgh fahren muß, um einer alten Dame, der nicht viel mehr fehlt als anderen Menschen in ihrem Alter, ihre Arznei zu verabreichen? Hätte ein Hausmädchen das nicht ebensogut erledigen können?« Schon seine Haltung, die hochgezogenen Schultern, drückten Herausforderung und Siegesgewißheit aus.
    Rathbone ballte die Fäuste, die Nägel schnitten ihm in die Handflächen. Die Spannung war unerträglich. Würde sie so zurückschlagen, wie er es erhoffte?
    Vor ihm saß Argyll reglos auf seinem Platz, nur an der Schläfe zuckte ein kleiner Muskel.
    Florence Nightingales Gesicht verhärtete sich. Sie sah Gilfeather ungnädig an.
    »Bitte… bitte…!« flehte Rathbone leise.
    »Weil sie eine freimütige Person ist, die – Gott sei’s gedankt mehr Mut als Taktgefühl besitzt«, erwiderte Florence scharf.
    »Sie macht sich nichts aus dem Krankenhausleben, wo sie Befehlen gehorchen muß, Befehlen von Leuten, die oft genug weniger wissen als sie selber, die jedoch zu eingebildet sind, um sich von einer Untergebenen etwas sagen zu lassen. Es ist vielleicht ein falsches Verhalten, aber allemal ein ehrenhaftes.«
    Die Geschworenen lächelten.
    »Und ein ungestümes«, fügte Gilfeather hinzu und trat einen Schritt vor. »Vielleicht sogar ein maßloses, würden Sie das nicht auch sagen, Miss Nightingale?«
    »Das würde ich nicht.«
    »Aber ich! Bisweilen maßlos, und zweifellos auch arrogant! Das ist die Schwäche, der charakterliche Fehler einer Frau, die sich über andere erhebt, die ihre eigene Meinung höher einschätzt als die der Männer, die in diesem Beruf ausgebildet wurden und Erfahrungen gesammelt haben, einem Beruf, den sie vielleicht auch gerne ergriffen hätte, für den sie jedoch keine Ausbildung hat, sondern lediglich ein bißchen Praxis in außergewöhnlichen Situationen…«
    »Mr. Gilfeather«, fuhr sie ihm herrisch ins Wort, ihre Augen funkelten, ihr ganzer Körper bebte vor zorniger Erregung.
    »Entweder wollen Sie mich in Rage bringen, Sir, oder Sie sind weitaus einfältiger, als ein Mann in Ihrer Position es sein sollte! Haben Sie denn nur die geringste Ahnung von den ›außergewöhnlichen Situationen‹, von denen Sie hier mit flinker Zunge reden?

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