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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Sie sind elegant gekleidet, Sir, und Sie scheinen sich bester Gesundheit zu erfreuen. Wie oft müssen Sie auf Ihr Abendessen verzichten? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie das ist, so hungrig zu sein, daß man froh wäre, die Knochen einer Ratte abnagen zu dürfen?«
    »Madam…«, wollte Gilfeather protestieren, aber sie hörte ihn gar nicht.
    »Sie haben Ihr Augenlicht, Sir, und alle Ihre Glieder. Haben Sie mal einen Mann gesehen, dem man die Beine weggeschossen hat? Wissen Sie, wie schnell man handeln muß, damit er nicht verblutet? Würden Sie die Arterien finden, unter all dem Blut, um ihn zu retten? Würden Ihre Nerven mitspielen und. Ihr Magen?«
    »Madam…«, machte Gilfeather noch einen Versuch.
    »Ich bin sicher, Sie sind ein Meister in Ihrem Beruf«, redete sie weiter, und sie stützte sich dabei nicht etwa auf das Geländer, sondern stand kerzengerade und mit hoch erhobenem Haupt. »Aber wie oft müssen Sie den ganzen Tag lang arbeiten und die Nacht noch dazu, und das viele Tage hintereinander? Oder dürfen Sie sich jeden Abend in Ihr Bett legen – in Ihr weiches, warmes Bett, in dem Sie bis zum nächsten Morgen sicher aufgehoben sind? Haben Sie schon mal auf einem Stück Segeltuch genächtigt, zu kalt, um darauf zu schlafen, und dem Stöhnen der Verwundeten in ihren Todesqualen gelauscht, dem Röcheln der Sterbenden, wohl wissend, daß es am nächsten Tag so weitergehen wird, unaufhörlich, und daß Sie nur sehr wenig tun können, um zu helfen, so erbärmlich wenig?«
    Es herrschte Totenstille im Saal.
    »Und wenn Ihnen schlecht ist, Sir, und Sie sich übergeben müssen und Durchfall haben, hält Ihnen dann nicht jemand eine Schüssel hin, säubert Sie, bringt Ihnen frisches Wasser, wechselt Ihre Bettwäsche? Hoffentlich sind Sie angemessen dankbar dafür, Sir, denn es gibt wahrlich genug Menschen, die es nicht so gut haben, weil viel zu wenige von uns bereit sind und den Mut haben, diese Arbeiten zu verrichten! Ja, Hester Latterly ist eine außergewöhnliche Frau, sie wurde von Umständen geformt, die weit jenseits der Vorstellungskraft der meisten Menschen liegen. Ja, sie kann recht eigensinnig, manchmal sogar arrogant sein, und das befähigt sie zu Entscheidungen, vor denen so manche weniger tapfere, weniger leidenschaftliche, weniger mitfühlende Seele verzagen würde.« Sie holte kaum Atem.
    »Und bevor Sie mich fragen – ich kann mir vorstellen, daß sie töten würde, um ihr eigenes Leben oder das eines ihr anvertrauten Patienten zu retten. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, daß sie aus Rache töten würde, egal, was man ihr zugefügt hätte – aber ich würde es nicht auf meinen Eid nehmen.« Jetzt lehnte sie sich doch auf die Brüstung und sah Gilfeather mit flammendem Blick an. »Aber ich würde vor meinem Schöpf er jeden Eid darauf schwören, daß sie niemals eine Patientin vergiften würde, um sich in den Besitz eines Schmuckstücks zu bringen. Wenn Sie das tatsächlich glauben, Sir, dann sind Sie ein weitaus schlechterer Menschenkenner, als Sie es in Ihrer Position sein dürften!«
    Gilfeather öffnete den Mund und machte ihn wieder zu. Er war geschlagen, und er wußte es. Er hatte eine Naturgewalt heraufbeschworen, und ein Sturm war über ihm losgebrochen.
    »Ich habe keine weiteren Fragen«, sagte er grimmig. »Vielen Dank, Miss Nightingale.« Rathbone starrte zu ihr hinüber.
    »Gehen Sie, helfen Sie ihr!« flüsterte er Argyll zu.
    »Was?«
    »So helfen Sie ihr doch!« sagte Rathbone eindringlich.
    »Sehen Sie doch, Mann!«
    Die Erregung in Rathbones Stimme trieb ihn aus seinem Sitz. Als Florence Nightingale auf der untersten Stufe beinahe zusammenbrach, stürzte er auf sie zu.
    Im Publikum reckten die Leute neugierig die Hälse.
    »Erlauben Sie mir, Madam«, sagte Argyll, ergriff Miss Nightingales Arm und stützte sie. »Ich fürchte, Sie haben sich zu unserem Wohl verausgabt.«
    »Es ist nichts «, sagte sie, und dennoch klammerte sie sich an ihn, dankbar für die angebotene Hilfe. »Ich bin nur ein wenig außer Atem. Vielleicht geht’s mir doch nicht so gut, wie ich dachte.«
    Ganz langsam, ohne das Gericht um Erlaubnis zu fragen, brachte er sie zur Tür; aller Augen folgten ihnen atemlos, bis er sich, unter zustimmendem, respektvollem Gemurmel, zurück an seinen Platz begab.
    »Danke, Euer Ehren«, sagte er feierlich zum Richter. »Die Verteidigung ruft als nächste Zeugin Miss Hester Latterly.«
    »Es ist spät geworden«, erwiderte der Richter schroff und mit mühsam

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