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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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unterdrücken. »Wir sollten uns vorstellen, wie Sie auf leisen Sohlen zwischen den Betten hindurchschwebten, hier eine schweißnasse Stirn wischten, dort einen Verband erneuerten, wie Sie sich auf das Schlachtfeld wagten, um beim Licht einer flackernden Lampe eigenhändig Operationen durchzuführen.« Seine Stimme wurde lauter. »Aber war es nicht in Wirklichkeit ein sehr rauhes Leben, Madam, das sie dort draußen mit Soldaten verbrachten, unter Schlachtenbummlerinnen, Frauen niederer Herkunft und noch viel niedrigerer Moral?«
    Lebendige Erinnerungen stiegen in ihr auf.
    »Viele der Schlachtenbummlerinnen waren Soldatenfrauen, Sir, und ihre bescheidene Herkunft entsprach der ihrer Ehemänner«, erwiderte sie zornig. »Sie haben die Wäsche gewaschen und sich um die Kranken gekümmert. Jemand mußte es ja machen. Und sollten Sie damit andeuten wollen, Miss Nightingale oder eine ihrer Krankenschwestern seien Soldatendirnen gewesen, dann…«
    Ein Sturm der Empörung erhob sich im Saal. Ein Mann sprang auf und schüttelte empört die Faust gegen Gilfeather.
    Der Richter schlug wütend mit dem Hammer, niemand beachtete ihn.
    Rathbone vergrub das Gesicht in den Händen. Argyll drehte sich um und sagte etwas zu ihm. Henry Rathbone schloß die Augen und schickte ein stilles Stoßgebet zum Himmel.
    Gilfeather blies den Angriff ab und versuchte es auf andere Weise. »Wie viele Männer haben Sie sterben sehen, Miss Latterly?« versuchte er den Lärm zu übertönen.
    »Ruhe!« brüllte der Richter. »Ruhe, oder ich lasse den Saal räumen!«
    Es wurde fast augenblicklich still. Niemand wollte hinausgeworfen werden.
    »Wie viele Männer, Miss Latterly?« wiederholte Gilfeather seine Frage, als der Aufruhr sich gelegt hatte.
    »Sie müssen darauf antworten«, ermahnte sie der Richter, noch bevor Hester etwas sagen konnte.
    »Ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht gezählt. Jeder einzelne von ihnen war ein Mensch und keine Zahl.«
    »Aber es waren sehr viele?« insistierte Gilfeather.
    »Ich fürchte ja.«
    »Sie sind also an den Tod gewöhnt; Sie haben weder Angst noch Abscheu vor ihm, wie die meisten anderen Menschen?«
    »Jeder, der sich um Verwundete kümmert, muß sich an den Tod gewöhnen, Sir. Aber man trauert trotzdem um jeden.«
    »Sie sind streitsüchtig, Madam! Ihnen fehlen die guten Manieren und das Taktgefühl, die Bescheidenheit, die Ihr Geschlecht gemeinhin auszeichnet!«
    »Vielleicht!« erwiderte sie. »Aber Sie wollen die Leute glauben machen, ich wisse ein Menschenleben nicht zu schätzen, ich wäre abgestumpft gegen den Tod, und das ist nicht wahr. Ich habe weder Mrs. Farraline noch sonst jemanden getötet, und ihr Tod hat mich weit mehr getroffen als Sie!«
    »Ich glaube Ihnen nicht, Madam. Sie haben dem Gericht Ihre wahre Natur offenbart. Sie haben keine Angst, besitzen keinerlei Sinn für Schicklichkeit und Bescheidenheit. Es fällt nicht schwer, in Ihnen eine Frau zu sehen, die sich vom Leben nimmt, was sie will, und jeden bekämpft, der sie daran hindert. Die arme Mary Farraline hatte keine Chance mehr, nachdem Sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatten.«
    Hester starrte ihn entgeistert an.
    »Das ist alles!« sagte Gilfeather. »Was haben die Geschworenen davon, wenn ich Ihnen jetzt noch Fragen stelle und Sie doch alles abstreiten? Haben Sie noch Fragen an Ihre Zeugin, Mr. Argyll?«
    Argyll dankte ihm nicht ohne Sarkasmus in der Stimme und wandte sich an Hester.
    »War Mrs. Farraline eine bemitleidenswerte, schüchterne alte Dame, die sich leicht tyrannisieren ließ?«
    »Ganz und gar nicht«, sagte Hester ein wenig erleichtert.
    »Ganz im Gegenteil: Sie war intelligent, wortgewandt und immer Herr der Lage. Sie hat ein sehr interessantes Leben geführt, ist viel gereist, hat bedeutende Menschen gekannt und war bei wichtigen Ereignissen dabei.« Sie zwang sich zu einem schwachen Lächeln. »Mrs. Farraline hat mir erzählt, wie sie die Nacht vor der Schlacht bei Waterloo durchgetanzt haben. Ich fand sie mutig und klug und lustig und… und… ich habe sie bewundert.«
    »Danke, Miss Latterly. Ja, ich habe mir auch eine solche Meinung über sie gebildet. Und ich denke, Mrs. Farraline empfand eine ähnliche Bewunderung für Sie. Das war alles, was ich Sie fragen wollte. Sie dürfen für den Augenblick auf die Anklagebank zurückkehren.«
    Der Richter vertagte die Verhandlung. Die Zeitungsreporter liefen sich gegenseitig über den Haufen, um als erste ihre Berichte weiterzugeben. Auf der Galerie explodierte

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