Dunkler Grund
empfangen?«
»Ja, Sir.«
Langsam und in allen Einzelheiten führte er sie durch den Tag im Hause der Farralines. Er erkundigte sich nach dem Ankleidezimmer, in dem die Zofe die Koffer gepackt hatte, ließ sie alles beschreiben, an das sie sich erinnern konnte, einschließlich der Arzneischatulle, der Phiolen, die man ihr gezeigt hatte und der genauen Instruktionen. Die Anstrengung des Erinnerns nahm sie so in Anspruch, daß ihrer Stimme die Angst nicht anzuhören war.
Dann kam er zur Zugreise. Stockend, traurig, den Blick nur auf ihn gerichtet und ohne etwas anderes wahrzunehmen, erzählte sie, worüber Mary und sie miteinander geredet hatten, wie Mary sich an einige der Reisen ihrer Jugend erinnert hatte, an die Menschen, das Lachen, die Ereignisse, die Dinge, die ihr lieb und teuer gewesen waren. Sie erzählte, wie schwer es Mary gefallen war, zu einem Ende zu finden, und hätte Oonagh sie nicht vor Marys Durchhaltevermögen gewarnt, wer weiß, ob sie sich durchgesetzt hätte? Mit leiser, tiefer Stimme, ständig in Gefahr, in Tränen auszubrechen, berichtete sie, wie sie die Schatulle geöffnet und die leere Phiole entdeckt hatte, bevor sie Mary ihre Dosis verabreichte, die Schatulle wieder geschlossen und sich selber schlafen gelegt hatte.
Mit unveränderter Stimme, fast ohne zu zögern, erzählte sie ihm, wie sie am nächsten Morgen erwacht war und die grausige Entdeckung gemacht hatte, daß Mary tot war.
An der Stelle unterbrach er sie.
»Sind Sie ganz sicher, daß Sie keinen Fehler gemacht haben, als Sie Mrs. Farraline die Medizin verabreichten, Miss Latterly?«
»Ganz sicher. Ich habe ihr den Inhalt einer Phiole gegeben. Sie war eine sehr intelligente Frau, Mr. Argyll, weder kurzsichtig noch zerstreut. Sie hätte meinen Fehler bemerkt und sich geweigert, die Medizin zu nehmen.«
»Das Glas, das Sie benutzt haben, Miss Latterly – hatte man es Ihnen mitgegeben?«
»Ja, Sir. Es gehörte zum Inhalt der Schatulle, zusammen mit den Phiolen.«
»Ich verstehe. Wieviel paßte in das Glas, eine Phiole oder mehr?«
»Eine Phiole, Sir; dafür war es vorgesehen.«
»Aha. Sie hätten es also zweimal füllen müssen, um ihr mehr als den Inhalt einer Phiole zu geben?«
»Ja, Sir.«
Mehr mußte dazu nicht gesagt werden. Er sah an den Gesichtern der Geschworenen, daß sie verstanden hatten.
»Und nun zu der grauen Perlenbrosche«, fuhr er fort. »Ist sie Ihnen irgendwann einmal unter die Augen gekommen, bevor Sie sie in Ihrer Tasche gefunden haben im Hause von Lady Callandra Daviot?«
»Nein, Sir.« Beinahe hätte sie erzählt, daß Mary von der Brosche gesprochen hatte, aber im letzten Moment beherrschte sie sich. Der Schreck darüber, einem entscheidenden Fehler so nahe gewesen zu sein, ließ sie erröten. Um Himmels willen, jetzt sah sie o sicher wie eine Lügnerin aus! »Nein, Sir. Mrs. Farralines Koffer befanden sich im Gepäckwagen, zusammen mit meiner Reisetasche. Ich habe ihre Dinge nicht mehr zu Gesicht bekommen, nachdem ich das Ankleidezimmer am Ainslie Place verlassen hatte. Und selbst dort habe ich nur die Kleider zu sehen bekommen, die obenauf lagen.«
»Danke, Miss Latterly. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind. Mein gelehrter Freund wird Ihnen zweifellos ein paar Fragen stellen wollen.«
»Und ob ich das will!« Gilfeather sprang lebhaft auf. Doch bevor er beginnen konnte, vertagte der Richter die Verhandlung, und er mußte mit seinem Angriff bis nach dem Mittagessen warten. Und der Angriff hatte es in sich! Wie eine Aureole stand das widerspenstige Haar um seinen Kopf, als er sich dem Zeugenstand näherte. Er war groß und schlacksig und sah sie freundlich an, aber aus den hellen Augen leuchtete der Kampfeswille.
Hesters Herz klopfte so heftig, daß sie zitterte und Angst hatte, die Worte könnten ihr im Halse steckenbleiben, wenn sie etwas sagen mußte.
»Miss Latterly «, begann er ganz sanft, »die Verteidigung hat Sie als tugendhafte, heroische und aufopfernde Frau gezeichnet. Die Umstände, die Sie in diesen Saal gebracht haben, lassen mich mit Verlaub – daran zweifeln, daß dieses Bild so ganz den Tatsachen entspricht!« Er verzog ein wenig das Gesicht.
»Menschen, wie mein gelehrter Herr Kollege sie hier gezeichnet hat, begehen keinen Mord, schon gar nicht, um einer ihnen anvertrauten alten Dame ein paar Perlen auf einer Brosche zu stehlen. Da stimmen Sie mir doch zu. Ich denke«, fuhr er fort und behielt sie dabei aufmerksam im Auge, »seine Argumentation beruht vor allem auf der
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