Dunkler Grund
Monk also ein Idiot, was die Frauen betrifft.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Hester zog es vor, nicht darauf einzugehen. »Da ist mir jemand wie Oliver Rathbone schon lieber«, fuhr sie fort und wußte selbst nicht genau, wieviel Wahrheit in ihren Worten steckte. »Er ist ein hervorragender Anwalt…«
»Zweifellos aus guter Familie«, sagte Mary ohne Umschweife. »Ist er anständig?«
»Ich… weiß nicht genau«, antwortete Hester zurückhaltend.
»Aber sein Vater ist einer der nettesten Menschen, die ich kenne. Mir wird ganz warm ums Herz, wenn ich sein Gesicht vor mir sehe.«
»Ach, wirklich! Vielleicht habe ich Sie mißverstanden. Dieser Mr. Rathbone scheint nicht uninteressant zu sein. Erzählen Sie mehr von ihm.«
»Auch er ist furchtbar klug, wenn auch auf andere Weise. Er ist sehr von sich überzeugt und hat einen trockenen Humor. Er ist nie langweilig, und ich muß zugeben, daß ich manchmal nicht weiß, was er wirklich denkt – bestimmt nicht immer das, was er sagt.«
»Und er, ist er in Sie verliebt? Oder wissen Sie das auch nicht?«
Hester lächelte zufrieden, der plötzliche, ungestüme Kuß kam ihr wieder ins Bewußtsein, klar und deutlich, als wäre es letzte Woche geschehen und nicht vor einem Jahr. »Ich glaube, das Wort wäre zu stark, aber er hat mich spüren lassen, daß er mich nicht ganz unattraktiv findet«, erwiderte sie.
»Ach, ausgezeichnet!« Mary war sichtlich vergnügt. »Und die beiden Herren können sich nicht riechen, oder?«
»Natürlich nicht«, stimmte Hester mit einer Befriedigung zu, die sie selbst erstaunte. »Aber das hat ganz sicher nichts mit mir zu tun – oder nur ein klein wenig«, fügte sie hinzu.
»Das ist ja alles höchst aufregend«, bemerkte Mary hocherfreut. »Schade, daß unser Beisammensein nur so kurz währt. Ich würde zu gerne wissen, wie es ausgeht.«
Hester spürte, wie ihr Gesicht wieder heiß wurde. Sie war völlig verwirrt. Sie hatte von ihren Gefühlen gesprochen, als ginge es um eine Liebesgeschichte. Wünschte sie es sich? Sie schämte sich ihrer Einfalt. Sie konnte doch unmöglich Monk heiraten, selbst wenn er sie darum bitten sollte – was er nicht tun würde. Sie würde sich ohnehin nur mit ihm streiten. Es gab so vieles an ihm, das sie wirklich nicht mochte. Mary gegenüber wollte sie nicht davon reden – das wäre ihr treulos erschienen –, aber er hatte ein paar grausame Züge, die sie schreckten, in seinem Charakter gab es dunkle Bereiche, Impulse, denen sie nicht traute. Einem solchen Mann konnte sie sich nicht anvertrauen, nicht mehr jedenfalls, als man sich einem Freund anvertraut.
Und Oliver Rathbone, würde sie den vielleicht heiraten, sollte er sich jemals dazu verleiten lassen, sie darum zu bitten? Eigentlich müßte sie es tun. Es wäre eine bessere Partie, als die meisten Frauen sie jemals machen würden, ganz besonders Frauen ihres Alters. Sie war fast dreißig, um Himmels willen! Nur reiche Erbinnen konnten in diesem fortgeschrittenen Lebensalter noch auf eine Ehe hoffen! Und da sie alles andere als eine reiche Erbin war, mußte sie selber für ihren Lebensunterhalt sorgen.
Also, warum hätte sie eine solche Gelegenheit nicht ergreifen sollen?
Mary sah sie immer noch an, ein Lächeln in den Augen. Hester wollte etwas sagen, aber sie wußte nicht, was.
Marys Gesicht wurde ernster. »Überlegen Sie es sich gut, wen Sie wollen, meine Liebe. Eine falsche Entscheidung bereut man sein ganzes Leben lang.«
»Es gibt nichts zu entscheiden!« antwortete Hester viel zu schnell.
Mary erwiderte nichts, aber Verständnis und Zweifel waren ihrem Gesicht abzulesen.
Der Zug verlangsamte wieder sein Tempo, um schließlich ruckelnd zum Stehen zu kommen. Türen flogen auf, und jemand rief etwas. Der Stationsvorsteher kam den Bahnstein entlang und rief vor jedem Wagen den Namen des Bahnhofs aus. Hester wickelte sich die Decke fester um die Knie. Draußen, in der flimmernden Dunkelheit, klingelte eine Handglocke, und nach wenigen Minuten spuckte die Lokomotive reichlich Wasserdampf aus und setzte sich wieder in Bewegung.
Es war kurz vor halb elf. Hester spürte, wie die Müdigkeit der letzten Nacht sie einzuholen begann, aber Mary war offensichtlich noch hellwach. Oonagh hatte angeordnet, daß sie ihre Arznei nicht nach elf bekommen sollte, allerspätestens um Viertel nach elf. Anscheinend ging Mary nie früher zu Bett.
»Sind Sie müde?« fragte sie. Eigentlich genoß sie Marys Gegenwart, und am Morgen würde
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