Dunkler Grund
Fußboden war aus einem weichen, fugenlosen Material.
Die größte Überraschung jedoch war die Tatsache, daß sich bereits drei Personen in der Zelle befanden: Eine ältere Frau um die Sechzig, mit unnatürlich gelblichem Haar und einer gipsfarbenen, seltsam leblosen Haut. Sie starrte Hester aus ausdruckslosen Augen an. Die zweite Insassin war sehr dunkel, das lange Haar hing ihr in verfilzten Strähnen vom Kopf. Das schmale Gesicht hatte einen ganz eigenen Reiz. Ihre Augen, die so tief lagen, daß sie beinahe schwarz erschienen, blickten Hester mit wachsendem Mißtrauen entgegen. Die dritte Person war noch ein Kind, nicht älter als acht oder neun, mager, schmutzig und mit so strubbeligen Haaren, daß man unmöglich auf den ersten Blick erkennen konnte, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Die Kleidung half auch nicht weiter: Es waren abgetragene, geflickte Erwachsenenkleider, mit der Schere auf die richtige Größe gestutzt und mit einem Stück Seil um den Bauch gebunden.
»Siehst ja aus wie ’ne tote Ente im Regen«, sagte die dunkle Frau feindselig. »Is’ wohl das erstemal, was? Was haste denn ausgefressen? Was geklaut?« Mit scharfem Blick musterte sie Hesters geborgtes Kleid. »Kind gemopst? Wie ’ne Hure siehste nich’ gerade aus, nich’ in dem Aufzug!«
»Wie bitte?« Hester war begriffsstutzig und verwirrt.
»In dem Fetzen schleppste keine Kerle nich’ ab!« sagte die Frau verächtlich. »Und die Nase brauchste bei uns auch nich’ hoch tragen – wir gehör’n doch alle zur Familie.« Ihre Augen verengten sich. »Aber du wohl nich’, was?« Es war keine Frage, sondern eine Beschuldigung.
»Natürlich nich’«, sagte die ältere Frau müde. »Die versteht ja nich’ mal, waste da redest, Doris.«
»Sind Sie… Verwandte?« fragte Hester leise und bezog auch das Kind in die Frage mit ein.
»Nee, wir sind keine Verwandten nich’, du dusselige Kuh!« Die Frau schüttelte verächtlich den Kopf. »Ich meine, wir sind Professionelle, jede von uns drei. Und das bist du nich’, oder? Du hast es mal probiert und dich gleich erwischen lassen, was? Was haste denn gemacht, was gemopst?«
»Nein. Nein, aber sie behaupten es.«
»Na klar! Unschuldig, was?« Ihre Grimasse drückte Unglauben aus. »Ach ja, sind wir das nich’ alle? Die gute Marge hier, die hat gar keine Abtreibungen gemacht, was, Marge? Und Tilly, die hat den Kreisel gar nich’ gedreht. Und was ich bin, ich unterhalte gar kein zweifelhaftes Haus.« Sie legte eine Hand auf die Hüfte. »Ich bin ’ne ordentliche, anständige Frau. Was kann ich dafür, wenn so ’n paar von meinen Kunden krumme Hunde sind?«
»Was soll das heißen, ›den Kreisel gedreht‹?« Hester wagte sich einen Schritt weiter in die kleine Zelle und setzte sich auf die Pritsche, nur zwei Handbreit neben der Frau namens Marge.
»Biste ’n bißchen dämlich oder was?« fragte Doris, »’n Kreisel drehen.« Sie beschrieb mit dem Zeigefinger eine Spirale.
»Hast als Kind nie mit ’nem Kreisel gespielt? Du mußt doch mal so ’n Ding gesehen haben, wenn de keine Tomaten auf deine Augen hast!«
»Man kommt doch nicht ins Gefängnis, weil man einen Kreisel dreht!« Ärger stieg in Hester hoch. Gegen diese aus der Luft gegriffenen Beleidigungen konnte sie sich wenigstens wehren.
»Kommt man doch, wenn andere drüber stolpern«, sagte Doris und kräuselte die Lippen. »Ist es nich’ so, Tilly?«
Das Kind sah sie mit großen Augen an und nickte langsam.
»Wie alt bist du?« wollte Hester von ihr wissen.
»Keine Ahnung«, antwortete Tilly gleichmütig.
»Bist du doof!« schaltete sich Doris sofort ein. »Kannst nich’ mal zähl’n!«
»Kann ich doch!« protestierte Tilly. »Ich weiß genau, wieviel zehn is’!«
»Du bist noch keine zehn.« Damit beendete Doris das Thema. Sie wandte sich wieder an Hester. »Bei was haste dich denn erwischen lassen, feine Dame? Was haste denn gemopst?«
»Eine Brosche mit Perlen«, antwortete Hester unwirsch. »Und was hat euch feine Herrschaften in dieses Verlies gebracht?«
Doris entblößte mit ihrem Lächeln eine Reihe regelmäßiger, kräftiger Zähne. Ohne die braunen Flecken hätten sie prächtig ausgesehen. »Ach, ’n paar von uns ha’m die Männer für ihr Vergnügen berappen lassen. Is’ doch nur gerecht, oder? Aber dann hat in meinem Hinterzimmer einer gekupfert, und das mög’n die Schweine nich’, weil’s die Rechtsverdreher nich’ mög’n.« Mit sichtlicher Zufriedenheit registrierte sie Hesters
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