Dunkler Grund
bin ihr in einem Boudoir vorgestellt worden, einem Salon, der weit weg von ihrem Schlafzimmer lag. Glaube ich wenigstens. Aber ganz sicher bin ich nicht. Jedenfalls war er nicht gleich neben dem Ankleidezimmer.«
»Aber das Hausmädchen hätte doch ins Ankleidezimmer kommen können«, gab er zu bedenken. »Unmittelbar vor solch einer langen Reise ist sie sicher mehrmals dort gewesen, um nachzusehen, ob alles gepackt ist, ob die Wäsche gebügelt und ordentlich zusammengelegt ist und am richtigen Platz liegt.
Würde man in einem solchen Moment riskieren dort hineinzugehen, wenn man dort nichts zu suchen hat?«
»Nein… nein, natürlich nicht!« Aber gleich sank ihr wieder der Mut. »Und als ich schlief, hatte ich meine Reisetasche bei mir. Niemand hätte die Brosche hineintun können.«
»Darum geht es nicht, Hester«, sagte er geduldig. »Ich versuche mir vorzustellen, was die anderen sagen werden. Wann hätten Sie Gelegenheit gehabt, die Brosche zu finden und an sich zu nehmen. Wir müssen wissen, wo sie aufbewahrt wurde.«
»Natürlich!« beteuerte sie eifrig. »Mrs. Farraline könnte sie in einer Schmuckschatulle in ihrem Schlafzimmer gehabt haben. Das wäre doch viel vernünftiger, als sie im Ankleidezimmer aufzubewahren.« Sie blickte in sein Gesicht und entdeckte eine Freundlichkeit, die sie in freudige Erregung versetzte, doch spürte sie schnell, daß seinem Lächeln die Leichtigkeit fehlte. Dabei war es doch fast ein Beweis ihrer Unschuld, wenn Mary die Brosche in ihrem Schlafzimmer aufbewahrt hatte!
Er sah sie beinahe schuldbewußt an, wie jemand, der einem Kind die Illusionen rauben muß.
»Nun?« fragte sie. »Ist das nicht gut? In ihrem Schlafzimmer bin ich nie gewesen! Und außer der Zeit in der Bibliothek und während meines Mittagsschlafs war ich immer mit anderen zusammen!«
»Von denen mindestens einer die Unwahrheit sagt, meine Liebe. Jemand hat die Brosche in Ihre Tasche gesteckt, und zwar nicht versehentlich.«
Sie beugte sich ungeduldig vor. »Aber es muß doch möglich sein zu beweisen, daß ich keine Gelegenheit hatte, sie aus dem Schlafzimmer zu entwenden, wo sie ihre Schmuckschatulle mit Sicherheit aufbewahrt hat! Ich bin fast sicher, daß sie nicht im Ankleidezimmer stand. Wo hätte sie dort auch stehen sollen?« Ihre Stimme wurde lauter, als sie sich das Ankleidezimmer in allen Einzelheiten vorstellte. Sie lehnte sich noch weiter zu ihm hinüber. »Drei Kleiderschränke standen an der Wand, einer hatte ein Fenster und einer einen Aufsatz mit Schubladen. Und eine Frisierkommode mit einem Hocker davor und drei Spiegeln. Ich kann mich an Bürsten und Kämme und Kristallgläser für die Haarnadeln erinnern und an ausgekämmte Haare. Aber eine Schmuckschatulle stand da nicht. Sie hätte den Blick in die Spiegel verstellt. Und auf dem Schrankaufsatz stand auch nichts, außerdem wäre ich da nicht drangekommen.«
»Und die Wand gegenüber?« Er lächelte gequält.
»Oh… ja, natürlich die Tür. Ein Stuhl… und eine Art Tagesbett.«
»Aber keine Schmuckschatulle?«
»Nein! Ich bin ganz sicher!« Sie frohlockte. Es war nur ein ganz kleines Stück Erinnerung, aber immerhin ein Anfang. »Das muß doch etwas bedeuten.«
»Es bedeutet, daß Sie eine klare Erinnerung haben, mehr nicht.«
»Wieso nicht?« sagte sie eindringlich. »Wenn die Schatulle nicht dort war, kann ich auch nichts herausgenommen haben!«
»Aber, Hester, wir haben nur Ihr Wort, daß die Schatulle nicht dort war«, sagte er leise, und sein Mund wurde ganz schmal vor Sorge und Betrübnis.
»Das Hausmädchen…«, begann sie und brach den Satz ab.
»Eben«, sagte er. »Die beiden Menschen, die es bestätigen könnten, sind das Hausmädchen, das die Brosche vielleicht selbst in Ihre Tasche gelegt hat, und Mary Farraline, und die können wir nicht mehr fragen. Und wer sonst? Die älteste Tochter, Oonagh McIvor? Was wird sie sagen?«
Sie sah ihn wortlos an.
Er langte mit einer Hand über den Tisch, als wollte er sie berühren, doch er zog sie gleich wieder zurück.
»Hester, wir müssen der Wahrheit ins Auge schauen«, sagte er mit ernster Stimme. »Sie sind da in etwas hineingeraten, das wir noch nicht ganz verstehen, und es wäre unvernünftig davon auszugehen, daß irgend jemand dort Ihr Freund ist oder auch nur die Wahrheit sagen wird, wenn es gegen seine oder ihre Interessen ist. Wenn Oonagh McIvor vor der Wahl steht, ein Familienmitglied zu beschuldigen oder Sie, eine Fremde, dann können wir uns nicht darauf
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