Dunkler Grund
vibrierte.
Hester war den Tränen nahe; sie konnte nicht sprechen. Rathbone kam um den Tisch herum und nahm ihre Hände in seine. Die Wärme seiner Finger erschien ihr wie ein Licht im Dunkel, und sie hielt sie so fest, wie sie sich nur traute.
Ein paar Sekunden lang sah er ihr ins Gesicht, lange genug, um ihre Angst abzuschätzen, dann ließ er sie abrupt los und schob sie sanft zu dem Stuhl, der für sie bereitstand.
»Setzen Sie sich«, befahl er. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Sie gehorchte und raffte ihre Röcke, um den Stuhl bequem an den Tisch ziehen zu können.
Er nahm ihr gegenüber Platz und beugte sich ein wenig vor.
»Ich war bereits bei Connal Murdoch«, sagte er ernst. »Ich wollte ihn davon überzeugen, daß die ganze Sache ein Irrtum ist, mit dem man keinesfalls die Polizei befassen muß.« Er sah sie entschuldigend an. »Leider hat er sich bereits eine Meinung zu der Sache gebildet und ließ sich nicht umstimmen.«
»Und Griselda? Marys Tochter?«
»Sie hat kaum ein Wort gesagt. Sie war dabei, doch sie hat sich ihm in allem gefügt; sie schien mir sehr verzweifelt zu sein.« Er schwieg und betrachtete sie forschend.
»Ist das eine höfliche Umschreibung der Tatsache, daß sie keine eigene Meinung hat?« fragte sie. Sie konnte sich keine Beschönigungen leisten.
»Ja«, gab er zu. »Ja, ich fürchte, so ist es. Trauer kann zahlreiche Gestalten annehmen, und viele davon sind unattraktiv, aber sie schien mir weniger bekümmert als eingeschüchtert zu sein das war zumindest mein Eindruck.«
»Von Murdoch?«
»Ich weiß es nicht sicher. Zuerst dachte ich, nein, und dann hatte ich doch das Gefühl, daß er sie nervös macht, sie einschüchtert. Ich habe keinen klaren Eindruck. Tut mir leid.« Er runzelte die Stirn. »Aber das ist jetzt alles nicht so wichtig. Ich habe ihn nicht dazu bewegen können, die Angelegenheit fallenzulassen. Die Dinge nehmen jetzt ihren Lauf, und Sie müssen sich darauf einstellen, meine Liebe. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit sie schnell und diskret geregelt wird. Aber Sie müssen mir dabei helfen, indem Sie meine Fragen mit der größtmöglichen Klarheit beantworten.« Er schwieg wieder. Mit seinem ruhigen Blick schien er sie zu durchdringen, als könne er nicht nur ihre Gedanken lesen, sondern auch die Angst sehen, die in ihr aufstieg.
»Was hat das noch für einen Sinn?« fragte sie verzweifelt.
»Es hat einen Sinn.« Er lächelte schwach. »Wir haben noch nicht alle Tatsachen beisammen. Ich muß mehr wissen, wenn ich beweisen will, daß Sie kein Verbrechen begangen haben.«
Kein Verbrechen. Natürlich hatte sie kein Verbrechen begangen. Vielleicht hatte sie etwas übersehen, und Mary Farraline wäre noch am Leben, wenn sie es nicht übersehen hätte. Aber die Brosche hatte sie ganz bestimmt nicht genommen. Sie hatte sie nie zuvor gesehen. Ein Funken Hoffnung glimmte in ihr auf. Sie sah Rathbone in die Augen und lächelte, aber es war nur ein kleines, freudloses Lächeln.
Außerhalb des kahlen Raums, in dem sie saßen, knallten Türen, laut und widerhallend, Eisen auf Stein. Jemand rief etwas, der Ruf hallte laut durch die Gänge, blieb aber unverständlich.
»Erzählen Sie mir noch einmal, und zwar in allen Einzelheiten, was passiert ist, nachdem Sie das Haus der Farralines in Edinburgh betreten hatten«, verlangte er.
»Aber ich…«, begann sie, dann sah sie sein ernstes Gesicht und berichtete gehorsam über alles, was sich zugetragen hatte, nachdem sie dem Butler McTeer in der Küche begegnet war.
Rathbone hörte aufmerksam zu. Hester hatte den Eindruck, als wäre die ganze Welt um sie herum versunken und nur noch sie beide säßen sich hier gegenüber, in verzweifelter Konzentration über einen Holztisch gebeugt. Sie glaubte, sein Gesicht auch mit geschlossenen Augen sehen zu können, jede Einzelheit hatte sich in ihr Gedächtnis gegraben, selbst die silbernen Strähnen an den Schläfen.
»Sie haben einen Mittagsschlaf gemacht?« unterbrach er sie zum erstenmal.
»Ja. Warum?«
»War es, vom Aufenthalt in der Bibliothek abgesehen, das einzige Mal, daß man sie allein ließ?«
Sie verstand sofort, was das zu bedeuten hatte.
»Ja.« Es fiel ihr schwer, es auszusprechen. »Jetzt können sie behaupten, ich wäre in das Ankleidezimmer zurückgegangen und hätte die Brosche genommen.«
»Das bezweifle ich. Es wäre außerordentlich riskant gewesen. Mrs. Farraline war doch sicher in ihrem Schlafzimmer…«
»Nein… nein, ich
Weitere Kostenlose Bücher