Dunkler Rausch der Sinne
Jaxon. Du darfst niemals denken, dass du für die Untaten
anderer verantwortlich bist.«
Jaxon hielt die Nähe zu ihm einfach nicht aus und entzog sich seinem
Griff. Sie hatte Mühe, Luft zu bekommen. »Lucian, lass Antonio sofort anhalten.
Ich muss hier raus. Ich gehe den Rest des Wegs zu Fuß. Es ist nicht mehr weit.«
»Es ist kurz vor Morgengrauen, Liebes.« Er sagte die Worte völlig
unbewegt, als wollte er sich weder für noch gegen ihre Absicht aussprechen.
»Ich bekomme hier drinnen keine Luft, Lucian. Halt den Wagen an.« Sie
wollte so schnell sie konnte weglaufen - ob vor sich selbst oder vor den
Ereignissen dieser Nacht, wusste sie selbst nicht. Sie wusste nur, dass sie
frische Luft brauchte. »Ich will allein sein. Halt bitte den Wagen an und lass
mich ohne dich zum Haus zurückgehen. Ich muss jetzt wirklich allein sein.«
Wieder wanderte Lucians Blick düster und brütend über ihr Gesicht. Sein
Geist drang in ihren ein. Er erkannte Jaxons Bedürfnis, allein zu sein, an der
frischen Luft zu sein, frei atmen zu können. In ihrem Inneren herrschte ein
furchtbarer Aufruhr.
Der Wagen blieb abrupt stehen, und Jaxon wurde bewusst, dass Lucian
Antonio befohlen hatte, stehen zu bleiben. Im nächsten Moment war sie draußen
und schoss los, indem sie den Asphalt der Straße hinter sich ließ und über das
freie Feld rannte, das zu den Hügeln auf der Südseite von Lucians Anwesen
führte. Sie lief parallel zur Straße, bis der Wagen um eine Kurve bog und aus
ihrem Blickfeld verschwand. Sofort änderte sie die Richtung und rannte den
Hügel hinauf, weg vom Haus und auf die Felsklippen zu. Zweimal musste sie
stehen bleiben und sich vorbeugen, als ihr Körper gegen die schrecklichen Verbrechen
revoltierte, die nur deshalb begangen worden waren, weil jemand sie kannte. Was
war sie? Ein Magnet für Monster? Irgendetwas Schreckliches in ihrem Inneren
weckte den Dämon in anderen. Aber nicht sie musste den Preis bezahlen;
unschuldige Außenstehende hatten dafür zu büßen.
Jaxon hatte die Gespräche im Wohnhaus und auf dem Revier gehört, das
Geraune, die stillschweigende Verurteilung ihrer Person. Die meisten ihrer
Freunde hatten Angst, mit ihr zu sprechen, keiner wollte mit ihr gesehen
werden, und alle fürchteten um ihre Familien, und das mit gutem Grund. Dieses
jüngste Blutbad war schlimmer als alles, was Drake je angerichtet hatte.
Dieser Vampir war imstande, an zwei Orten gleichzeitig ein Massaker
stattfinden zu lassen.
Jaxon lief so schnell sie konnte weiter. Als der Pfad steiler wurde,
stolperte sie gelegentlich, weil Tränen über ihr Gesicht strömten und ihr die
Sicht nahmen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, wusste selbst nicht,
was sie eigentlich vorhatte. Sie wusste nur, dass dieses Töten ein Ende nehmen
musste. Ihr Vater. Ihre Mutter. Ihr geliebter kleiner Matthew. Die ganze
Andrews-Familie, sogar die arme Sabrina, die über die Ferien vom College nach
Hause gekommen war. Dann ihre Nachbarin Carol. Carols großes Verbrechen hatte
darin bestanden, jeden Morgen den Sonnenaufgang zu betrachten, und sie war
gestorben, weil es ihr Freude machte, dieses Erlebnis mit ihrer Nachbarin zu
teilen. Und jetzt all die anderen unschuldigen Opfer.
Schluchzend stieg sie den Weg zu dem steilen Felsen hoch oben auf den
Klippen hinauf. In dem Moment, als sie sich an dem Felsen hochzog, schwankte
und schaukelte die Erde unter ihren Füßen wie eine Achterbahn. Am Himmel
türmten sich schwarze Wolken auf, wild und aufgewühlt wie ein Hexenkessel.
Blitze zuckten von einer Wolke zur nächsten, schlugen wie ein weiß glühender,
gezackter Pfeil in die Erde ein, kurz bevor ohrenbetäubende Donnerschläge
ertönten. Jaxon stieß einen lauten Schrei aus und rannte zur Felskante. Wenn es
keine Jaxon mehr gab, würde es für Drake auch keinen Grund mehr geben, andere
zu töten.
Sie versuchte auf dem schwankenden Boden unter ihren Füßen
weiterzulaufen und sich von der Kante abzustoßen. In dem Moment, als sie mit
einem Fuß ins Leere trat, schlang sich ein starker Arm um ihre Taille und hob
sie hoch.
»Lucian.« Sie wisperte seinen
Namen, klammerte sich an ihn, an ihren Rettungsanker in einer Welt des
Wahnsinns. Ihre schlanken Arme schlangen sich um seinen Hals, und sie vergrub
ihr Gesicht an seiner Schulter.
Sein Körper zitterte; sie konnte es fühlen. Sie hob den Kopf und sah in
den Tiefen seiner Augen blankes Entsetzen. Er beugte sich vor und eroberte
ihren Mund, während sich über ihnen der Himmel öffnete
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