Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
freiwillig aussteigen, und Feinde hat er auch nicht. Doch, das schon, bis zu einem gewissen Grad ist er durchaus risikofreudig, aber harmlos, wie Jungen eben so sind. Ein paar Bierchen am Samstagabend. Das ist ja wohl kein Verbrechen? Wir machen uns große Sorgen.
Sie posieren für den Zeitungsfotografen und kennen jemanden, der vielleicht unter geheimnisvollen Umständen ums Leben gekommen ist. Was, wenn er plötzlich unversehrt wieder auftaucht, wenn er nur eine Spritztour mit der Dänemarkfähre gemacht hat, um mal richtig auf den Putz zu hauen? Was für eine Enttäuschung! Das hätte doch ein großes Erlebnis sein können. Ich habe sie nicht enttäuscht.
Ich habe fast alle Lampen im Haus gelöscht. Aber die im Badezimmer brennt noch. Bald wird Andreas in Auflösung übergehen. Wie ein Stück Fleisch, das wir auf dem Tisch liegen lassen. Es verfärbt sich, wird weich und wabbelig, dann fängt es an zu riechen. Zu irgendeinem Zeitpunkt wird es giftig. Ich bin jetzt auch giftig, und vielleicht rieche ich anders. Dabei nehme ich solche Dinge so genau. Seife und Deodorant. Wasche mir oft die Haare. Putze den Fußboden. Die Fensterscheiben blitzen. Alle Türklinken sind glatt und sauber. Ich selbst jedoch bin ein Stück verdorbenes Fleisch. Ich wollte nicht, daß das passiert.
»Matteus?«
Er hörte die Stimme in der Sekunde, in der die Tür ins Schloß fiel. Sofort tastete er in seiner Tasche nach der Gummibärchentüte. Die sollte sie entdecken und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
»Ja«, sagte er leise und ließ die Tüte knistern.
Seine Mutter kam aus dem Wohnzimmer und zog sein Gesicht an ihren Busen.
»Hast du unterwegs Leute getroffen?«
»Meine Jacke hing ganz unten«, sagte er schnell.
Ein wenig zu schnell. Sie hatte schon Verdacht geschöpft.
»Opa ist hier.«
Matteus stürzte ins Wohnzimmer und in die offenen Arme. Und dann flog er hoch, flog wie der Wind, fast bis an die Decke.
»Denk an deinen Rücken«, sagte Ingrid zu ihrem Vater.
Und dann lächelte sie. Nach all den einsamen Jahren hatte er sich wieder aufgerichtet und sich von eins sechsundneunzig auf zwei Meter gestreckt, so sah es jedenfalls aus. Wegen einer Frau.
»Du kommst siebzehn Minuten zu spät«, sagte Sejer und starrte seinen Enkel an.
»Meine Jacke hing ganz unten«, wiederholte Matteus.
»Ach«, Sejer lächelte. »Und alle Aufhänger waren miteinander verwickelt?«
Ein feines Netz von dünnen Linien erschien auf seinem Gesicht, als sein Lächeln breiter wurde. Nichts konnte ihn dermaßen begeistern wie dieses schokoladenbraune Kind. Der Junge war wehrlos, weich, fast noch wackelig auf den Beinen. Das war beunruhigend, wenn man bedachte, wie das Leben aussah und was alles passieren konnte. Er wußte das nur zu gut. Der Junge schlüpfte unter seinem Arm hindurch und griff von hinten nach seiner Hand.
»Zeig mir den Polizeigriff«, bat er eifrig.
»Ich zeig dir den Polizeigriff«, lachte der Großvater, wirbelte ihn herum, packte ihn wie ein Bündel und trug ihn zum Sofa.
»Versprichst du, die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit?«
Matteus heulte vor Freude. Ingrid lehnte am Türrahmen und beobachtete die beiden. Sejer schaute zu ihr hinüber. Sie hielt sich auf eine Weise gerade, die ihn an ihre Mutter erinnerte.
»Du hast nicht auf die Uhr geschaut, weil es gerade so lustig war«, spekulierte er und sah in die braunen Augen. »Du hast die Worte deiner Mutter vergessen.«
»Nein«, schrie Matteus und drehte sich auf den Bauch.
»Du hast einen herrenlosen Hund gefunden. Du hast dich zu ihm gesetzt und ihn gestreichelt und dir überlegt, wie du Mama dazu bringen kannst, daß sie dir erlaubt, ihn zu behalten. Einen zerzausten Köter. Hab ich recht?«
»Nein, nein!« schrie der Junge, schnappte sich ein Kissen und legte es über den Kopf.
»Dir ist eine Bande von Mistkerlen begegnet, und die wollten dich nicht vorbeilassen.«
Es wurde ganz still. Ingrid blickte verwundert erst ihren Vater und dann ihren Sohn an, der sich zusammenrollte und zu einem Ball aus Jeansstoff und Samt wurde.
»Die saßen im Auto.«
»Wer?« Sofort stand Ingrid neben ihm.
»Reg dich ab«, sagte Sejer rasch. »Er ist doch hier.«
»Was haben sie getan? Nun sag schon!«
»Nichts.« Er sprach ins Sofa hinein.
»Jetzt antworte schon!«
»Ich kann meinen Namen nicht leiden. Matteus ist doof!« schrie der Junge und schleuderte das Kissen auf den Boden. Er weinte nicht. Er weinte fast nie. Hatte rasch
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