Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
weißen Welt heranwachsen. Da mußte er dabeisein. Sejer schüttelte verwirrt den Kopf. Begriff diese plötzliche Düsterkeit nicht. Er drehte sich um, als Jacob Skarre neben ihn trat.
»Gut riecht’s hier.«
»Wie meinst du das?« fragte Sejer nervös.
»Nach Essen«, sagte Jacob.
Sie aßen und tranken und redeten über die Arbeit. Sara erzählte Geschichten aus dem Heim, in dem sie als Stationsärztin tätig war. Sie war durchaus nicht berauscht, jedenfalls merkte er ihr nichts an. Aber er schaute bisweilen verstohlen zu ihr hinüber und beobachtete Jacob sorgfältiger als sonst. Das Problem mit Jacob war, daß er so taktvoll war. Falls er etwas bemerkt hatte, würde er das niemals erwähnen. Sollte Sejer es selbst zur Sprache bringen, irgendwann unter vier Augen? Er dachte darüber nach, während Jacob einen Schußwechsel schilderte. Es war ziemlich schlimm, aber eben doch eine alte Geschichte, die sich mit kleinen Veränderungen ständig wiederholte. Jacob aber wollte sich mit seinem Gott aussprechen. Wollte einen Sinn finden, wo es keinen Sinn gab. Es gab keinen. Keinen Zweck, keinen Plan, der sie zu einem guten Ziel führte. Da war Sejer sich ziemlich sicher.
»So eine Jugendclique veranstaltete ein Fest. Alles war wie immer. Die Jungs sorgten für die Getränke, die Mädels wurden eine nach der anderen an ihren Straßenecken abgeholt. Ein Junge, Robert, wohnte zur Untermiete. Und hatte eine Stereoanlage. Sein Vermieter war verreist, die perfekte Gelegenheit also. Es ging darum, sich vollaufen zu lassen, eine Frau aufzureißen, eine Nummer zu schieben und am nächsten Tag damit zu protzen.«
Skarre schaute Sejer an, aus den blauesten Augen aller Zeiten.
»Einige haben auch einen Joint geraucht. Sie waren nicht wirklich rauschgiftsüchtig, es gilt ja fast schon als normal, auf Festen ein bißchen Hasch zu konsumieren, und ein besonders schweres Delikt ist es heute auch nicht mehr. Kurz gesagt: Alles endete im tiefsten Elend. Suff und Streit. Robert holte ein Schrotgewehr und ballerte seiner Freundin eine volle Ladung ins Gesicht. Sie hieß Anita und war achtzehn Jahre alt. Sie war sofort tot.«
Er verstummte und starrte in sein Rotweinglas. Hielt es korrekt am Stiel, wollte auf der Tulpe keine Fingerabdrücke hinterlassen. Es war überhaupt merkwürdig, worauf dieser Junge alles achtete.
»Ganz normale Jugendliche«, sagte er an Sara gewandt. »Ich weiß, das hört sich so an, als ginge es um einen Haufen von Asozialen, aber so war es nicht. Die hatten alle Arbeit oder gingen zur Schule. Sie kommen aus ordentlichen Familien. Hatten bis dahin nie etwas verbrochen.«
Er ließ den Wein im Glas hin und her schwappen. »Irgendwie ist das unbegreiflich, oder? Höchstens kann man es sich damit erklären, daß etwas die Herrschaft über sie gewinnt. Irgendwas, das von außen kommt.«
»Den Teufel kannst du nicht verantwortlich machen.« Sejer lächelte.
»Kann ich nicht?«
»Hat die norwegisch-lutherische Staatskirche ihn nicht offiziell ausgeschlossen? Für nichtexistent befunden?«
»Das ist der größte Fehler, den die Menschheit jemals begangen hat«, sagte Skarre nachdenklich.
»Warum?« fragte Sara.
»Wenn wir nicht an ihn glauben, dann erkennen wir ihn auch nicht, wenn er plötzlich auftaucht.«
»Dem Teufel die Verantwortung geben? Um Gottes willen. Was würde das vor Gericht für einen Eindruck machen?«
»Nein, nein«, Jacob schüttelte den Kopf, »versuch mal, es so zu sehen: Wir begegnen dem Teufel immer wieder. Die Frage ist nur, wie wir mit ihm umgehen.« Er verstummte für einen Moment. »Ich glaube eigentlich nicht an den Teufel«, erklärte er lächelnd. »Aber manchmal kommen mir doch Zweifel. Zum Beispiel, als ich das Bild von dieser Anita gesehen habe. Das Bild von ihren Überresten. Oder Roberts Gesicht durch die Türluke, als er in der Zelle saß. Er ist ein guter Mensch.«
»Wir sind gut und böse, Jacob«, sagte Sara. »Nicht entweder oder.«
»Doch. Manche sind im Grunde gut, andere im Grunde zynisch. Ich spreche von einem Grundton, den es in jedem Menschen gibt. Bei Robert ist dieser Ton gut. Stimmst du mir nicht zu, Konrad?«
Doch. Er stimmte zu. Und das begriff er nicht. Er blieb noch lange auf. Gönnte sich eine zusätzliche Stunde. Sara und Jacob mußten in dieselbe Richtung und hatten zusammen ein Taxi genommen. Sejer klopfte sich auf den Oberschenkel, ein Signal für den Hund, daß er sich vor Sejers Füße legen sollte. Die Gedanken wirbelten dahin. Matteus,
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