Dunkler Schnee (German Edition)
nicht mehr dein Patient. Die Behandlung ist vorüber.“ Er kam noch näher, Marisa spürte seinen Atem, er zwirbelte kurz eine ihrer dunklen Haarsträhnen, deren Spitze ihre Wange streichelte. Marisa ließ es geschehen.
„Marisa, ich kann nichts dafür. Von der ersten Minute an fand ich dich unwiderstehlich. Du ahnst ja nicht, was es für mich bedeutet, nur dein Patient zu sein. Wie es mich quält, deine Berührungen zu spüren, aber dich nicht anfassen zu dürfen. Bitte, Marisa, manchmal geschehen die Dinge einfach. Ich bin machtlos dagegen.“ Sie fühlte, wie die Wärme seiner Haut die Novemberluft überwand, eine Verbindung zu ihrem Körper schuf, die sie gleichermaßen erregte und erschreckte. Abrupt wandte sie sich ab. Sie fand den Schlüssel und versuchte, das Auto zu öffnen, traf jedoch nicht das Schloss. Die Hand zitterte. „Nicht, Volker, bitte, Sie verwirren mich.“
„Ich würde dich nicht ansprechen, wenn ich nicht der Meinung wäre, dass du ähnlich empfindest. Ist es nicht so?“
Der Schlüssel fiel zu Boden. Beide gingen in die Knie. Volker schob seine Hand unter ihr Nackenhaar, zog sie kaum merklich näher an sich heran. Sie roch eine Spur seines Aftershaves. Bei der Behandlung am Nachmittag war es auch ohne direkte Nähe noch zu riechen gewesen.
Sie mochte diesen Duft, der ihren Widerstand durchlöcherte.
Sie mochte, dass Volker wie ein Schatten auf sie gewartet und sich wie ein heißes Versprechen von der Fassade gelöst hatte.
Sie mochte, wie er sie angesprochen und ihr während all der Behandlungen geschmeichelt hatte.
Sie mochte seine Bartstoppeln, seine dunklen Augen.
Sie mochte die Silberfäden, die seine Haare durchzogen.
Sie mochte seinen kranken Ellenbogen und seine ausgebildeten Oberarmmuskeln.
Sie mochte den ganzen Mann und sie mochte die flirrende Vorstellung, seinen Körper ganz nah an ihrem zu spüren und die Dinge einfach laufen zu lassen …
Ihre Lippen trafen sich; Volkers Duft umhüllte Marisa wie ein zartes Chiffontuch. Ihre Zungenspitzen fanden sich, ertasteten einander, als würden sie gerade erst entdecken, wie sanft Berührungen sein können. Sie öffneten sich füreinander und für den Bruchteil der Dauer eines Wunsches hatte Marisa das Gefühl, es wäre alles perfekt. Dann ging im Hausflur der Praxis das Licht an!
Sekunden später trat die Putzfrau auf den Hof und eilte durch die im Dunkeln liegende Ausfahrt der Straße zu. Marisa meinte, ihr bliebe das Herz stehen. Ein Blick in Volkers Gesicht verriet die gleiche Regung. Starr hielten sie sich in den Armen, ließen sich kurz darauf los, als würden sie aus einer Trance erwachen, und standen auf.
„Es ist besser, wenn ich jetzt fahre“, sagte Marisa, und der Gedanke an Laurens und die wartenden Einladungen ließ das Blut in ihre Wangen schießen.
„Marisa, geh noch nicht! Bitte!“
Volker ergriff ihre Hand und zog sie wieder zu sich. Der zweite Kuss war von einer Selbstverständlichkeit geprägt, die, so lange er dauerte, alle Organisation des Lebens über Bord warf, alles nichtig machte, was Minuten vorher Lebensinhalt war.
12. Nova Scotia – Adam
„Erster Schritt ist: Du bleibst nicht mehr allein!“ Adam ist aufgestanden und geht auf und ab. Er knetet ab und zu seine Hände. „Zweiter Schritt: abwarten!“
Marisa grinst. „Und der dritte Schritt?“, fragt sie.
„Das kommt darauf an, was der Zweite bringt!“ Adam grinst auch und setzt sich.
„Adam, möglicherweise wird die ganze Sache gefährlich. Es ist besser, wenn ich abreise, glaub mir.“
„Du wirst dein Problem nicht lösen. Und du hast keinen Platz im Flieger.“
„Ich versuche täglich einen Platz zu bekommen. Früher oder später wird es klappen.“
„Und der Mann, der deinen Hund umgebracht hat, wird dir folgen.“
„Er weiß aber nicht, wann ich fliege, und er wird deswegen nicht im selben Flugzeug reisen können. Ich habe also Zeit, in Deutschland unterzutauchen.“ Marisa hat das Gefühl, mehr sich selbst als Adam überzeugen zu müssen. Es kommt ihr alles absurd vor. Das Wissen um die Unausweichlichkeit schürt Ängste, aber Adam, ihr neuer Vertrauter, ist dabei, die Ängste einzukreisen und einzuzäunen. Kann sie das zulassen? Aber wenn sie damit nicht nur sich selber, sondern auch den netten Kanadier in neue Gefahren bringt? Sie zweifelt, beißt sich auf die Lippe, die schon lädiert ist.
„Und du meinst, der Plan wird funktionieren?“ Adam fragt pflichtschuldig, schüttelt den Kopf, zeigt sein
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