Dunkler Strom (Billy Bob Holland) (German Edition)
wurde von Richterin Judy Bonham, wegen ihrer Nachgiebigkeit und ihres Sinns für Humor auch als Judy die Eiserne oder Stonewall Judy bekannt, abgelehnt. Sie war etwa vierzig Jahre alt, hatte einen Teint, der anscheinend nie mit der Sonne in Berührung gekommen war, und schwarze Haare, die stets so aussahen, als seien sie frisch gefönt. Viermal die Woche ging sie in langen Turnhosen auf einem langärmligen Sweatshirt zum Hanteltraining ins Fitneßstudio. Wenn sie auf der Bank lag und Bauchmuskelübungen machte, zeichneten sich Hüfte und Hintern flach und hart wie Metallplatten unter ihrem Turnzeug ab.
Der Gerichtssaal verfügte über keine Klimaanlage, so daß lediglich der Luftzug durch die offenen Fenster und die hoch oben an den Wänden angebrachten Ventilatoren für Kühlung sorgten. Das Gerichtsgebäude lag noch im morgendlichen Schatten, und das Wasser der Rasensprenger klatschte gegen die Bäume, als Marvin Pomroy mit seinem Eröffnungsplädoyer begann.
Es war eine wortgewandte Ansprache, voll mühsam unterdrückter Entrüstung über die Brutalität des Verbrechens, die erniedrigende Behandlung, die dem Opfer widerfahren war, das ehrlose Verhalten eines jungen Mannes, »dem sie vertraut, den sie vermutlich geliebt, vielleicht sogar gehofft hat zu heiraten, bis er in trunkener Raserei ihr junges Leben vernichtete«.
Wie üblich bot er sein größtes Talent auf, nämlich die Fähigkeit, den Geschworenen den Eindruck zu vermitteln, daß er persönlich absolut von der Schuld des Angeklagten überzeugt war, ungeachtet dessen, was die Beweisaufnahme ergeben mochte. Über die Hälfte der Geschworenen waren Schwarze und Latinos. Es spielte keine Rolle. Marvin kehrte den Donnerkeil-Baptisten heraus, den gestrengen Christenmenschen aus dem ländlichen Süden, der sich für seine Einstellung nicht zu entschuldigen brauchte, sondern einem vielmehr das Gefühl gab, man teile seinen Sinn für Anstand und Sittsamkeit und sei ob dieses tragischen Todesfalls ebenso erschüttert wie er. Sein rechtschaffen zürnender Blick, die glühenden Wangen, der empörte Tonfall, mit dem er die Schläge erwähnte, die auf das Gesicht des Opfers eingeprasselt waren, sorgten dafür, daß der Zuhörer die Stimme Gottes zu vernehmen meinte, den Pfarrer seiner Kirchengemeinde, die mahnenden Worte von Mutter und Vater.
Marvin trug einen silbernen Ring mit einem eingravierten goldenen Kreuz an der linken Hand. Während seines Eröffnungsplädoyers umklammerte er mehrmals mit ebendieser Hand die Brüstung der Geschworenenbank.
Im Grunde genommen war sein Eröffnungsplädoyer fast schon zu überzeugend. Von den Zweifeln, die bei unserer letzten Besprechung noch sichtlich an ihm genagt hatten, war nichts mehr zu spüren. Was wiederum hieß, daß irgend etwas passiert sein mußte, seit ich ihm berichtet hatte, daß ich zwei Zeugen gefunden hätte, die aussagen würden, Lucas habe bereits tief und fest geschlafen, als Roseanne noch am Leben gewesen war.
Ich ging zur Geschworenenbank.
»Der Vertreter der Anklage hat Ihnen das ganze Ausmaß der Verletzungen geschildert, die dem Opfer zugefügt wurden, und darauf hingewiesen, wie elendiglich Roseanne Hazlitt zu Tode kam«, sagte ich. »Er wird diese Bilder ein ums andere Mal heraufbeschwören. Er will damit ausdrücken, daß jemand für das, was man dieser jungen Frau angetan hat, bestraft werden muß. Und genau das ist der Haken: Der Vertreter der Anklage will Ihnen einreden, daß irgend jemand bestraft werden muß, selbst wenn es der Falsche ist.
Zwei Menschen sind dieser Tat zum Opfer gefallen. Das zweite Opfer ist Lucas Smothers, ein neunzehn Jahre alter Junge, der noch nie jemandem etwas zuleide getan hat. Seit seiner Festnahme am Tatort, als er buchstäblich besinnungslos war, gar nicht in der Lage, über jemanden herzufallen, hat die Sheriffdienststelle nicht die geringsten Anstalten unternommen, auch anderweitige Ermittlungen anzustellen, obwohl es durchaus möglich sein könnte, daß jemand anderer für Roseanne Hazlitts Tod verantwortlich ist.
Statt dessen wurde ein Junge, der, von dem einen oder anderen Verkehrsdelikt einmal abgesehen, noch nie straffällig geworden ist, mit zwei Psychopathen in einen Zellenblock gesperrt, von der Staatsanwaltschaft ohne jede weitere polizeiliche Ermittlung für schuldig befunden und vor Gericht gestellt, obwohl der Vertreter der Anklage wußte, wußte, daß wir zwei Zeugen gefunden haben, die beweisen können, daß Lucas Smothers die Tat nicht
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