Dunkler Wahn
»Was glaubst
du wohl, was wir für ’nen Stress bekommen? Die werden alles ganz genau wissen wollen. Und wenn sie die Pistole und den Stoff bei dir finden, ist erst recht die Hölle los.«
»Ja, stimmt.« Er nickte. »Ich dachte ja nur … Aber eigentlich ist ja auch gar nichts passiert.«
»Eben«, bestätigte sie ihn. »Hier hat eine Verrückte rumgetobt, und als wir gekommen sind, ist sie weggelaufen. Das ist alles. Außerdem wissen wir gar nicht, ob es wirklich die Frau aus der Zeitung gewesen ist. Es kann doch genauso gut irgendeine Patientin aus der Waldklinik gewesen sein.«
»Dann kannst du deinem Alten sagen, dass er besser auf seine Spinner aufpassen sollte.«
Noch einmal leuchtete Robert den Boden ab und betrachtete den zerfetzten Ast. Wer immer das gewesen war, musste mit einer erstaunlichen Kraft zu Werke gegangen sein.
Er ließ den Lichtkegel durch den Wald wandern. Die Verrückte war entweder davongelaufen oder hatte sich vor ihnen versteckt. So oder so, es war kein gutes Gefühl.
»Okay«, sagte er, »dann machen wir jetzt ’nen Abgang. Ist ganz schön unheimlich hier.«
»Ja, komm schon, Bobby. Lass uns endlich gehen. Die muss doch noch irgendwo hier sein. Ich spüre so etwas.«
»Hörst du sie irgendwo?«
»Nein.«
»Na, dann komm.«
So schnell es ihnen im Dunklen möglich war, liefen sie zurück zum Wagen. Immer wieder sah Robert sich um und richtete die Pistole auf Gestalten, die sich gleich darauf als Baumstämme und Sträucher erwiesen. Mochte er wegen Sandra auch nach außen hin den harten Kerl geben, aber
er fühlte sich erst wieder sicher, als er mit laut aufheulendem Motor vom Waldparkplatz fegte.
Aus einiger Entfernung sah Jana den beiden Jugendlichen nach. Sie kauerte hinter einem Busch, und ihr Atem ging noch immer stoßweise, teils vor Aufregung, vor allem aber wegen der irrsinnigen Wut, die in ihr tobte.
Es hatte nur wenig gebracht, sich den Hass aus dem Leib zu schreien. Sie hatte geglaubt, es würde sie erleichtern, doch genau das Gegenteil war der Fall gewesen. Ihr Zorn war nur noch gewachsen.
Vor allem aber war sie in ihrer blinden Raserei ein ziemliches Risiko eingegangen. Was wäre gewesen, wenn die beiden sie gestellt hätten? Der Junge hatte eine Waffe gehabt. Nicht auszudenken, wenn sie sich gezwungen gesehen hätte …
Nein, daran durfte sie jetzt nicht denken. Es war vorbei, und sie hatte noch einmal Glück gehabt. Aber ab sofort durfte sie sich nicht mehr auf ihr Glück verlassen. Die Zeit war gekommen, endlich zu handeln. Immerhin war sie jetzt doch genau an dem Punkt angelangt, wo sie immer hinwollte.
Mein Plan , dachte sie. Mein Plan! Das ist alles, was noch zählt! Nur werde ich ihn noch ein wenig ändern müssen.
45
»Schon gut, schon gut, ich komme ja!«
Ludwig Hofmann drehte das Radio zurück, ertastete seine Filzpantoffeln mit den Zehenspitzen, schlüpfte
hinein und stemmte sich mühsam aus dem Sessel. Gefolgt von seinem alten, schwarzen Labrador schlurfte er aus dem Nebenzimmer – das zugleich seine Wohnung war – und begab sich in die Rezeptionshalle.
Die goldenen Zeiten des Astoria waren längst vorüber. Mitte der sechziger Jahre war es eines der besten Hotels im Landkreis gewesen, doch seither hatte sich viel verändert. Das Viertel war heruntergekommen, die Gäste blieben fern, und auch der neu aufkommende Tourismus in der Fahlenberger Region hatte daran nichts ändern können.
Nun waren das ehemalige Restaurant und der große Ballsaal als Lagerräume an einen Teppichgroßhändler vermietet, und wenn doch einmal Gäste abstiegen, handelte es sich um Montagearbeiter oder Handelsvertreter auf der Suche nach einer billigen Übernachtungsmöglichkeit.
Hin und wieder kamen auch Gäste, die nur stundenweise ein Zimmer buchten. Anfangs hatte es Hofmann widerstrebt, aber er hatte dennoch nie Nein gesagt. Sollten diese Pärchen doch ihren Spaß haben, was ging es ihn an? Lange würde er das Hotel ohnehin nicht mehr halten können. Wäre seine Rente nicht so mickrig, hätte er schon längst dichtgemacht. Immerhin war er vierundsiebzig und aufgrund einer inoperablen Netzhautablösung fast völlig erblindet. Aber solange es noch irgendwie ging, würde er weitermachen.
Als er die Rezeption erreichte, erkannte er eine Frau. Mit dem wenigen Augenlicht, das ihm verblieben war, glaubte er, dass es eine Blondine im Regenmantel sein musste. Entgegen seiner ersten Vermutung roch sie jedoch nicht wie die meisten Frauen, die zu dieser späten Stunde
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