Dunkles Erbe - Blut Der Finsternis
eigentlich nicht, dass es ausgerechnet an diesem Bahnhof etwas auszusetzen gab, aber Seamus war er zu laut, zu dreckig und viel zu voll.
«Du bist selbst schuld. Wir hätten ein Flugzeug nehmen können.»
Diese Bemerkung brachte ihm ein abfälliges Schnauben und einen bösen Blick als Kommentar ein. Abscheulich von ihm, Seamus immer wieder damit aufzuziehen, doch die Verlockung war einfach zu groß.
In ein Flugzeug zu steigen und dadurch eine Reise, die mit dem Zug mehrere Stunden dauerte, auf einen Bruchteil dieser Zeit zu reduzieren, war für Seamus schlichtweg undenkbar. Seine unbegründete Flugangst war manchmal zum Verzweifeln, und mehr als einmal war Lucas schon kurz davor gewesen, ihn in ihrem Haus in Genf zurückzulassen. Einfach ohne ihn durch die Spiegel zu gehen. Auf die war Seamus nämlich noch schlechter zu sprechen als auf Flugzeuge. Er betrachtete es als Sakrileg, die ihnen gegebenen Talente zu benutzen, außer im absoluten Notfall. Dabei hasste er diese langen Reisen mindestens genauso sehr wie Lucas.
Doch was die Talente anging, hatte er seine heiligen Prinzipien, und in Flugzeugen packte ihn die Angst vor einem Absturz, einem Feuer oder vor dem, was sonst noch alles geschehen konnte.
Ein absolut widernatürliches Verhalten. Denn, wenn er nicht gerade mit dem Hintern auf einer Bombe saß, die ihn im Augenblick ihrer Detonation in Stücke riss, oder er von einem umherfliegenden Gegenstand geköpft wurde, was gar nicht so einfach zu bewerkstelligen war, dann war es praktisch unmöglich, dass sie als Hirudo einen Absturz nicht überlebten.
Doch so mussten sie wertvolle Nachtstunden damit vergeuden, in einem Zug über das Land zu kriechen, aufwendige Übernachtungen und obligatorische Verspätungen im Fahrplan in Kauf nehmen, anstatt mit dem Flugzeug ihre gesamte Reisedauer erheblich zu verkürzen.
Seamus wollte davon nichts hören und damit Schluss! Stattdessen wies er ständig auf die Vorteile einer Zugfahrt hin. Dadurch bliebe viel mehr Zeit, um die Geschäftspapiere noch einmal gründlich durchzuarbeiten und sich so viel besser auf den nächsten Termin vorzubereiten. Zwecklos, ihn daran zu erinnern, dass dafür wesentlich weniger Zeit nötig war, als die streckenweise mehr als fünf Stunden Fahrt.
Wollte er Seamus bei sich haben und ihn nicht beleidigen, musste er seine Macke und die damit verbundenen Konsequenzen in Kauf nehmen.
Also machte er es sich mit ihm in einem und noch einem und noch einem weiteren Abteil gemütlich. Gab vor, als wühle er hochbeschäftigt in wichtigen Unterlagen, las ein Buch oder stattete den Gepäckwaggons einen Besuch ab. Dort hielt sich immer wieder der eine oder andere blinde Passagier auf. Menschen ohne Vergangenheit und mit nicht viel weniger zu verlieren, als die Erinnerung an die kurzen Minuten, in denen er sich an ihrem Blut satt trank und sie dann unbehelligt weiterschlafen ließ.
Hauptsache Seamus wusste sich sicher und zufrieden auf festen Erdboden. Jetzt sah er jedoch weniger zufrieden aus, und das lag wohl nicht nur unbedingt an dem viel zu dreckigen, viel zu lauten und so weiter Bahnsteig. Ihre letzte Verabredung war nicht ganz so erfolgreich verlaufen, wie zu erwarten gewesen war.
Mit den Jahren war Seamus ein richtiger Profitsammler geworden und außer der Bestätigung seiner Autorität, die Lucas ihm immer wieder durch sein Nachgeben vermittelte, brachte ihm ein fettes Geschäft den richtigen Kick zum Leben.
Und diesmal war Lucas sich bewusst, dass er dieses Geschäft in den Sand gesetzt hatte. Er war abgelenkt, unkonzentriert und nicht fähig seine Aufmerksamkeit länger als ein paar Minuten auf eine bestimme Sache zu richten.
Dass er seine Zerstreutheit nicht lange vor seinem Begleiter verbergen konnte, hätte ihm eigentlich klar sein müssen, doch er versuchte, seine Fahrigkeit zu überspielen. Eigentlich dachte er, seine Sache gar nicht so schlecht zu machen, doch offenbar hatte er sich geirrt.
Seamus war schon immer ein aufmerksamer Beobachter gewesen, und seit ihrer Abreise aus Hamburg bemerkte Lucas, wie er ihn bei den verschiedensten Gelegenheiten mit ausgesprochen misstrauischen Seitenblicken beäugte. Bisher sagte er noch nichts, doch nach dem heutigen Abend rechnete Lucas fest damit, dass er ihn zur Rede stellte.
Was sollte er ihm sagen? Dass sich wieder einmal sein ganz grauenvolles und menschliches Gewissen zu Wort meldete? Dass er wieder das Gefühl hatte, lieber Aimee anstelle von Blanche an seiner Seite zu haben? Dass er
Weitere Kostenlose Bücher