Dunkles Erbe - Blut Der Finsternis
glaubte, einen Fehler zu machen, weil er, nachdem seine Wandlung vollendet und sich sein Leben als Hirudo gefestigt hatte, nicht noch einmal zurückgegangen war, um sie und auch das Mädchen nach Genf zu holen?
Gut, alles was einst und vielleicht noch heute dagegen sprach, klang plausibel. Ja, ungefähr so plausibel wie eine schlechte Ausrede. Und das machte ihm schwer zu schaffen. Hätte er sie wirklich in die Familie holen wollen, dann hätte er das auch getan.
«Verdammt noch mal, Junge! Ich ertrage diese Leichenbittermiene keine Sekunde länger», platzte Seamus so laut heraus, dass Lucas erschrocken zusammenfuhr.
Oh je, jetzt geht's los! dachte er und glaubte förmlich in seinem Sitz zusammenzuschrumpfen. Je nach Stimmung bohrte der Ältere solange, bis er mit der Sprache rausrückte oder sich beleidigt abwendete und für die nächsten Stunden kein Wort mehr mit ihm wechselte.
Am liebsten wäre er jetzt einfach verschwunden. Ab in die Spiegelfläche des Fensters neben ihnen und erst wieder rauskommen, wenn Seamus weg war. Aber so lief das nicht. Seamus konnte zur Not hartnäckig wie ein Terrier sein, der sich in seine Beute verbiss. Wenn es hart auf hart kam, konnte er eine Situation wie diese, bis zum Morgengrauen aussitzen.
«Ich weiß nicht, wovon du redest?»
«So, du weißt also nicht, wovon ich rede?» Seamus stieß ein verächtliches Schnauben aus. «Natürlich weißt du das. Ich rede von deiner vollkommen unangebrachten Reise ins Land der Träume, die uns heute Abend mindestens sechzigtausend Dollar gekostet hat.»
«Das ist doch lächerlich. Der Kerl hätte auch abgelehnt, wenn ich ihm den Palast von Hammurabi angeboten hätte.»
Jetzt wäre eine Gelegenheit, Rat bei Seamus zu suchen, wie er das in den ersten Jahren so oft der Verzweiflung nahe, getan hatte. Doch etwas so Dummes wie Stolz hielt ihn zurück.
Sich derart schwach und unbestimmt zu zeigen, bedeutete, zwanzig Jahre weit in ihre gemeinsame Vergangenheit zurückzufallen, und wieder der Lucas Vale zu sein, der damals zitternd und am Rande des Irrsinns vor dem Haus der Familie am Genfer See stand.
Ein erbärmliches Stück Leben, das unfähig war, den Prozess der Wandlung zu verstehen, und ohne Hilfe zu überleben. Er hatte ihn angefleht, ja, gebettelt hatte er. Er solle ihn aus diesem Zustand befreien und den Dämon, als welchen er seinen Erzeuger Golan damals und zuweilen heute noch sah, vertreiben.
Und Seamus? Zu akzeptieren, dass sein Mentor, der über einhundert Jahre lang wie vom Erdboden verschluckt gewesen war, endlich wieder auftauchte, aber in dem Körper eines Fremden eingesperrt und hinter dessen unzulängliche, menschliche Persönlichkeit gezwungen war, musste unvorstellbar schwer für ihn gewesen sein.
Ihm jetzt zu zeigen, dass gerade Lucas wieder einmal die ganze Bühne für sich beanspruchte, bedeutete, einen erneuten Bruch zu riskieren.
Er schuldete ihm ein Schauspiel. Dass er vorgab, Golans Anteil in ihm sei ebenso stark und unverrückbar wie in Golans eigenem Körper, war Seamus eine Bestätigung für seine eigene Existenz, für seine eigene Stärke.
So mitfühlend und verständnisvoll Seamus auch immer sein mochte; für ihn ist Lucas Vale wie ein Flugzeug - er bedeutete Unsicherheit und Angst vor einem Absturz.
«Du hättest wenigstens versuchen können, ihn noch einige Wochen hinzuhalten. Das wäre ein Leichtes gewesen, und jetzt komm mir bloß nicht mit irgendeiner dummen Ausrede.»
«Das habe ich nicht vor. Ich war abgelenkt, es tut mir leid. Darf ich jetzt wieder spielen gehen?»
Seamus funkelte ihn unter zusammengekniffenen Brauen zornig an. Das war nicht schlimm. Sollte er ruhig wütend bleiben. Das half ihm, den letzten Abschnitt der Reise durchzustehen, ohne sein weiteres Misstrauen zu erregen.
Bald waren sie wieder zu Hause. Innerhalb der grauen Mauern ihres kleinen Heiligtums und in der Sicherheit der Gegenwart der anderen.
Lucas patziges Verhalten zeigte überraschenden Erfolg. Seamus zog sich beleidigt in die Polster seines Sitzes zurück und ließ die Sache auf sich beruhen, vorerst.
Die Sache war noch nicht erledigt, egal ob Seamus ihn nun in Ruhe ließ oder nicht. Lucas wusste, dass er nicht eher zur Ruhe kommen konnte, ehe er nicht herausfand, warum diese quälende Erinnerung ausgerechnet jetzt zurückkam.
5. Kapitel
«Warte! Bleib stehen! Ich will ... wissen ... ich will wissen, was du vorhast. Was willst du von mir?», japste Karen völlig außer Atem, doch Jarout reagierte
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