Dunkles Erbe - Blut Der Finsternis
immer noch an seinen Kleidern erkennen. Hoffentlich konnte er sich unbemerkt an ihr vorbei nach draußen schleichen und seine Sachen wechseln.
Vorsichtig, ganz vorsichtig zog er die Kellertür auf und lugte durch den schmalen Spalt in die Eingangshalle. Das graue Tageslicht war sanft zu ihm. Trotzdem ging alles rasend schnell. Im einen Augenblick war er noch der junge, wenigstens halbwegs kräftige Denis und im nächsten schon waren von seinem glänzenden, blonden Haar nur noch stumpfe, graue Strähnen übrig, die als dünne Haarbüschel wie räudige Federn von der faltigen Kopfhaut hingen. Seine Hände glichen knotigen Vogelklauen, arthritisch gekrümmt, mit dunklen Flecken übersät. Die zittrigen Finger waren kaum beweglich genug, um den Saum seiner Hose festzuhalten, die drohte, über die dürren Hüften runterzurutschen. Denis wusste, welch mitleiderregenden Anblick er bot. Ein Neunzigjähriger strahlte verglichen mit ihm geradezu jugendliche Vitalität aus. Seine Mutter war entsetzt in Tränen ausgebrochen, als sie ihn zum ersten Mal so sah. Aber Talent war Talent, und manchmal konnte sich sogar eine derart nutzlos scheinende Begabung als hilfreich erweisen. Für Lucas in erster Linie, wenn Denis ab und an tagsüber als greiser Gärtner nach dem Rechten sah oder einen seiner Geschäftspartner in Empfang nahm. Gottlob bat Lucas ihn nur sehr selten um eine derartige Gefälligkeit. So herumzulaufen war schrecklich kräftezehrend und alles andere als ein Vergnügen. Auch wenn er die Wärme der Sonne und die Farben der taghellen Welt jedes Mal aufs Neue genoss.
Zögernd verließ er den Schutz des Kellers und trat in die Halle hinaus. Karen war nirgends zu sehen. Bei der Frauenstatue blieb er stehen und lauschte aufmerksam. Wenigstens sein Gehör funktionierte noch hervorragend. Er hörte ihre Schritte und erkannte erschrocken, dass sie schnell näher kam.
Aufgeregt sah er sich suchend nach einem nahen Versteck um. In den Keller zurück? Oh nein, die Tür war ja zu. Was bist du doch für ein Esel? dachte er. Nächstes Mal musste er unbedingt besser planen. Ja, man soll besser nicht voreilig eine Tür hinter sich zufallen lassen, wenn man nicht die Kraft aufbringen konnte, sie auch wieder zu öffnen. Der Gang zur Küche? Schnell! Doch so schnell ging das nicht. Seine wackligen Beine wollten ihn kaum zwei Schritte weit tragen. Trotzdem erreichte er wie durch ein Wunder gerade noch rechtzeitig den schützenden Schatten des Korridors und versteckte sich eilig hinter der offenstehenden Tür.
Keine Sekunde zu spät, denn schon hörte er Karen rufen. Mein Gott, wie wütend sie klang! Wie eine Furie kam sie in die Halle gelaufen und schrie Lucas Namen. Von seinem Versteck aus konnte er sie gut sehen. Mit zorngerötetem Gesicht rief sie immer wieder nach Lucas, nannte ihn ihren Vater und verwünschte ihn und das ganze Haus.
Denis hätte sich am liebsten Augen und Ohren zugehalten. Er wollte sie so nicht sehen und hören. Sie war kaum wiederzuerkennen in ihrer Raserei. Und warum um Gottes willen nannte sie Lucas ihren Vater? War das etwa der Grund, warum sie so an ihm interessiert war? Aber das konnte unmöglich sein. Doch was war jetzt? Wie sich ihr Blick veränderte. Er wollte schon erleichtert aufatmen, weil er glaubte, sie beruhige sich wieder, doch da irrte er sich gewaltig.
Sie starrte zum Keller. Im Bruchteil einer Sekunde erbebte die Tür. Die Marmorstatue stürzte zu Boden und zerbarst mit einem markerschütternden Schlag. Denis entsetzter Aufschrei ging in dem lauten Poltern unter. Oh, Karen, warum hast du das getan? dachte er. Und das diese Welle der Zerstörung ihr Werk war, daran zweifelte er keinen Augenblick.
Karen war gefährlich. Gefährlich und vollkommen verrückt. Und sie war ganz allein in diesem Haus, ohne dass sie jemand aufhalten konnte. Denis konnte ein leises Wimmern nicht unterdrücken. Was sollte er jetzt bloß tun? Wenn nur schon Abend und Lucas zurück wäre. Er wüsste sofort, was zu unternehmen war.
Aber bis zum Abend blieb noch so viel Zeit. Stunden, in denen Karen wer weiß was tun konnte. Nein, er traute ihr nun nicht mehr. Denn egal, ob aus eigenem Antrieb heraus, oder weil Jarout sie für sich einspannte, war sie gekommen, um zu zerstören. Das konnte er nicht zulassen.
Als Karen aufgebracht die Treppe hinauflief und ihre Schritte nicht mehr zu hören waren, schlich er sich mit schlotternden Knien aus seinem Versteck. Ängstlich blickte er nach oben. Sie war verschwunden. Gut,
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