Dunkles Erwachen
durchzogen die frühe Nacht. Schatten tanzten in den Baumkronen und verschwanden im grünen Dämmerlicht.
Es schien eine ruhigere Nacht zu werden, als er vermutet hatte. Dennoch verharrte er auf seinem Posten und wachte bis zum Morgengrauen über die Menschen.
Die Wände der Schlucht schnitten steil abfallend in die Erde und teilten den Dschungel vor ihnen wie ein Keil. Der Boden des Abgrunds verlor sich im Dunst des frühen Morgens. Alice Struuten hatte ihre Kamera hervorgeholt und ließ sich die Szenerie nicht entgehen.
»Meine Güte, ist das gewaltig!«, kommentierte sie den Anblick und verstaute eines der Objektive in einer Seitentasche des Rucksacks, nachdem sie sicher war, kein Motiv verpasst zu haben.
»Ich frage mich nur, wie wir da runterkommen sollen«, stellte Eugène Mauris nüchtern fest, während er am Rand der Schlucht kauerte und kleine Steine nach unten warf. Er hatte nicht viel geschlafen. Direkt bei Sonnenaufgang waren sie aufgebrochen und bereits nach einer Stunde auf dieses Hindernis gestoßen. Die Landschaft erschien ihm so unwirklich, als sei sie künstlich angelegt worden und vielmehr Teil einer Anlage als wild gewachsene Natur.
Janet Verhooven ging zu Talon hinüber, der in die Schlucht blickte. »Müssen wir überhaupt da runter?«, verlangte sie nach einer Antwort.
»Ja«, erwiderte er kurz angebunden. Sie betrachtete ihn von der Seite. Er ließ durch nichts erkennen, dass er noch an gestern zurückdachte. Sie gestand sich nur ungern ein, dass ihr seine abweisende Art einen Stich versetzte.
Er war ganz offensichtlich unschlüssig, dennoch schien er sich des Weges, den er einschlagen musste, sicher zu sein. Talon lief an der Klippe entlang und verschaffte sich einen Überblick über die Landschaft. Dann deutete er nach rechts, auf ein Stück, das leicht nach unten abfiel.
»Wir gehen dort entlang.«
Ohne die Reaktion der anderen abzuwarten, setzte er seinen Weg fort. Die übrigen drei rafften ihr Gepäck zusammen und folgten ihm. Eugène beschleunigte seinen Schritt ein wenig, bis er direkt hinter Talon war.
»Woher wissen Sie das alles, wenn Sie noch nie hier waren?«, wollte er wissen. Die Rücksichtslosigkeit, mit der der »Wilde«, für den er Talon nach wie vor hielt, seinen Weg fortsetzte, machte ihn rasend. Er verstand nicht, warum Janet Verhooven dem Mann so bereitwillig folgte.
Talon warf ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu.
»Ich fühle – etwas. Und es führt mich dorthin, wo die Quelle liegt.«
Eugène hatte solch eine Antwort befürchtet und verkniff sich alle weiteren Fragen, auch wegen des Seitenblicks, mit dem ihn Janet bedachte. Er hatte in Kapstadt den einen oder anderen Kontakt, der vielleicht etwas Licht in die ganze Angelegenheit bringen konnte. Wenn er jemals wieder nach Nairobi zurückkam, würde er seine Bekannten in Südafrika anrufen …
Die folgenden Stunden kämpfte sich die Gruppe einen Weg über den schmalen Pfad nach unten. Mehr als einmal mussten sie ausweichen oder wieder umkehren, wenn sich der Grat als unwegsam erwies. Die Sonne lag hinter einem Schleier voller Dunst verborgen, der die Luft mit einer schweren Feuchtigkeit erfüllte. Je tiefer sie kamen, desto mehr versperrten ihnen Bäume und Sträucher den Weg, die die steilen Hänge bewuchsen und einen Kontrast zu der kargen Steinlandschaft bildeten.
Langsam näherten sie sich dem unteren Ende der Schlucht und konnten bereits den steinigen Untergrund erkennen. Doch nicht die Geröllbrocken erregten die Aufmerksamkeit der Menschen. Es waren die Wände der Schlucht, die in einem nahezu rechten Winkel abschlossen. Im Gegensatz zum rauen und zerklüfteten oberen Ende des Abgrunds zog sich der Weg wie ein behauener Pfad in gerader Linie durch das Gestein.
»Stehen bleiben!«, unterbrach ein leiser Zuruf Talons die Gruppe in ihrem Vormarsch.
Ein Winken mit der Hand deutete ihnen an, etwas zurückzubleiben. Er legte sich flach auf den Boden und schob sich an den Rand des Pfads vor. Die anderen drei taten es ihm gleich.
»Himmel!«, entfuhr es Alice Struuten leise. Sie legte sich die Hand auf den Mund und beobachtete das Bild mit großen Augen. Dutzende von Löwen, durch den Dunst im Verborgenen gelegen, zogen unter ihnen vorbei. Die Tiere hatten alle den Kopf gesenkt und marschierten ohne einen Laut durch die Schlucht.
Die Menschen warteten mehrere Minuten, bis die Raubtiere im Nebel verschwunden waren, dann erhoben sie sich vorsichtig.
»Wo wollen die alle nur hin?«, fragte
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