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Dunkles Feuer

Dunkles Feuer

Titel: Dunkles Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kenlock
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jetzt.
    Im Nebenzimmer hörte er die Geräusche seiner Familie, die von seiner aufgeregten Stimme geweckt worden war.
    Honghua, May-May, Jin. Was würde mit ihnen geschehen, wenn man ihn verhaftete?
    Er wusste es. Sie würden, wie Tausende vor ihnen, in ein Arbeitslager gebracht werden und dort bis zu ihrem frühen Tod in den Bergwerken oder in der Wüste schuften.
    „Wie kommen wir nach Hongkong?“, fragte er. In Kowloon waren ein Flughafen und ein Hafen, aber beides würden sie nicht benutzen können.
    „Ein Boot wird euch abholen.“
    „So mächtig bist du geworden, dass du all das in die Wege leiten kannst?“
    Xiao lachte heiser in den Hörer. „Nein, nicht ich. So mächtig bin ich nicht. Dazu braucht man Guanxi , Beziehungen bis ganz nach oben, und die hat nur ein Mensch, den wir kennen.“
    Obwohl er es ahnte, stellte er die Frage. „Wer?“
    „Harry ‘Wun’ Kwok, dein Vetter in Hongkong. Das Oberhaupt der Schwarzen Lotus Triade .“

    Das Rattern des Zuges übertönte alle anderen Geräusche und machte eine Unterhaltung unmöglich, aber der Familie war auch nicht nach Sprechen zumute. Still, verängstigt saßen sie in zwei Sitzreihen hintereinander auf klebrigen, verschlissenen Plastikbezügen und starrten auf die vorbeiziehende Landschaft.
    Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die verschmutzten Scheiben, und es gab nur wenig zu sehen. Eintönig, in grauen Farben, zog das Land an ihnen vorbei.
    Jin versuchte sich abzulenken, indem er die Bäume zählte, die am Fenster des Zuges vorbei flogen, aber nach einer Weile gab er es auf. Er dachte an sein Dorf, an seine Freunde. Würde er sie je wieder sehen? Den dicken Wu? Han, das schönste Mädchen der Welt mit den riesigen schwarzen Augen? Feng, der so geschickt Frösche fangen konnte? Unbemerkt von den anderen schlichen sich Tränen in seine Augen. Er wischte sie heimlich mit dem Ärmel seiner Jacke ab.
    Seit zwei Tagen waren sie bereits unterwegs. Alle waren erschöpft, und besonders die Kinder konnten sich kaum auf den Beinen halten, aber an Schlaf war nicht zu denken.
    Noch in derselben Nacht waren sie aufgebrochen, hatten ihre wenigen Habseligkeiten gepackt und waren mit dem Fahrrad losgefahren. Da die Familie nur ein Rad besaß, hatte Li Chen das Fahrrad des Genossen Ling gestohlen, das in einem Schuppen hinter dem Haus stand und das Gefährt des Postboten war.
    Li hatte Jin vor sich auf die Stange gesetzt, Honghua hatte May-May zu sich genommen. So waren sie über holprige Wege bis nach Yidu gefahren.
    Dort ließen sie die Fahrräder vor einem eisernen Fabriktor stehen, wo sie zwischen Tausenden anderer Fahrräder nicht auffallen würden, und machten sich zu Fuß auf den Weg in den Außenbezirk der Stadt. In einer Wellblechhütte mit verrostetem Dach erwartete sie ein buckliger Mann, der ihnen hastig die Zugfahrkarten und etwas Geld in die Hand drückte.
    Von da an waren sie mit der Bahn unterwegs gewesen. Ihr langer Weg, angefüllt mit der Angst vor einer überraschenden Kontrolle, führte sie durch die Großstädte Shaoguan und Guangzhou. Vorbei an tristen, abbruchreifen Häusern und Fabriken mit rauchenden Schloten, die alles im Umkreis von zwanzig Meilen mit Schmutz übersäten.
    Bis auf einen verschlafenen Schaffner, der ihre Fahrscheine sehen wollte, waren sie nicht belästigt worden. Li Chen begann, sich zu entspannen. Alles würde gut gehen.
    Das Unglück ereignete sich kurz hinter Guangzhou. Der Zug verlangsamte an einem einsamen Bahnhof seine Fahrt und blieb mit kreischenden Rädern stehen. Dampf wurde ausgestoßen und hüllte das Bahnwärterhäuschen ein.
    Li war gerade mit Jin auf der Toilette gewesen, drei Waggons weiter vorn in Richtung Lokomotive, und auf dem Rückweg zu seinem Platz, als die Militärstreife an Bord kam. Sechs Männer, die nicht lächelten und bellend Befehle gaben. An Lederriemen über ihren Schultern baumelten, mit dem Lauf nach vorn zeigend, Maschinenpistolen Modell 56, nachgebaute Kalaschnikowgewehre und original russische Sudajew-MPi.
    Im Laufschritt stürmten sie durch die Gänge, schrieen die verängstigten Reisenden an und verlangten die Ausweispapiere.
    Li Chen wusste, dass alles aus war.
    Er konnte beobachten, wie zwei Männer vor Honghua stehen blieben, und seine Frau die Ausweispapiere an die Soldaten aushändigte. Während einer den Namen vorlas, verglich der andere das Gehörte mit einer Liste.
    Plötzlich ruckte der Kopf des Soldaten mit der Liste nach oben. Seine Augen fixierten Honghua, und bevor

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