Dunkles Feuer
sie reagieren konnte, schlug er ihr hart ins Gesicht. Li sah, wie Blut aus der geplatzten Lippe seiner Frau auf das Polster tropfte. Der Mann brüllte sie mit hochrotem Kopf an. Li Chen verstand die Worte nicht, aber er konnte sich denken, dass sie Honghua nach ihm fragten.
Honghua schüttelte verbissen den Kopf, während sich May-May ängstlich an sie presste. Wieder schlug der Soldat zu. Li stiegen Tränen in die Augen, als er sah, wie der Kopf seiner Frau gegen die Fensterscheibe prallte und dort eine rote Blutspur hinterließ.
Unvermittelt kreuzten sich ihre Blicke. Honghua sah ihn verzweifelt an. Ihre Augen flehten darum, dass er mit Jin fliehen solle, solange es noch ging. Der Soldat konnte Li nicht sehen, da er mit dem Rücken zur Waggontür stand.
Immer mehr Soldaten drängten nun in den Waggon, in dem Honghua und seine Tochter gefangen waren. Neben ihm klammerte sich Jin an sein Bein, die Hände in seine Hose gekrallt.
Li bückte sich zu ihm herab, legte den Zeigefinger beschwörend über die Lippen und zog ihn mit sich. Nur wenige Meter weiter gab es eine schwere Metalltür. Er drückte den Hebel leise herunter, hob Jin auf seinen Arm und schlich aus dem Zug.
Draußen standen Soldaten in einer lockeren Kette um den Zug. Li ließ sich auf die Knie sinken und kroch mit seinem Sohn unter den nächsten Waggon. Zwischen grobem Splitt, menschlichem Kot und einem Haufen Unrat blieben sie liegen. Sie wagten kaum zu atmen oder sich zu bewegen. Li legte seinem Jungen die flache Hand über den Mund und presste ihn in den Dreck.
Es dauerte drei Stunden, bis die Soldaten den Zug verließen. Li Chen hob vorsichtig den Kopf an. Zu seinem Entsetzen entdeckte er, das Honghua und May-May sich nur wenige Meter von ihm entfernt befanden. Von bewaffneten Männern umringt, standen sie mit gesenkten Köpfen im Regen. Das leise Schluchzen seiner Tochter drang herüber und zerriss ihm das Herz. Fast wäre er aufgestanden, und sei es auch nur, um May-May für einen kurzen Moment in die Arme zu nehmen und zu trösten, aber da fuhr ein Mannschaftstransporter heran, und er musste machtlos mit ansehen, wie seine Frau und sein Kind grob auf die Ladefläche gestoßen wurden.
Kurz, nachdem die Soldaten verschwunden waren, bewegten sich knarrend die großen Eisenräder des Zuges. Li packte seinen Sohn und schaffte es gerade noch unter dem Waggon hervorzurollen, bevor der Zug über ihn hinwegrumpeln konnte.
In einem dornigen Gebüsch, dem Regen schutzlos ausgesetzt, verbrachten sie frierend die Nacht, bevor sie es am nächsten Morgen wagten, weiterzugehen.
Harry ‘Wun’ Kwok lächelte sie über seinen eleganten Glasschreibtisch hinweg an. Sein Büro lag im 23.Stock eines Hochhauses in der besten Lage Hong Kongs, und wenn er zum Fenster hinaus sah, konnte er einen Blick auf die berühmte Pferderennbahn werfen. Das Zimmer protzte mit dem Reichtum seines Benutzers.
Englische Möbel des achtzehnten Jahrhunderts standen, sorgfältig von einem Innenarchitekten platziert, neben hohen Vasen aus der Dynastie mongolischer Kaiser, die vor langer Zeit den Thron des Himmels besetzt hatten. An den Wänden hingen Tuschezeichnungen chinesischer Künstler, die mit wenigen Strichen ausdrucksvolle Landschaften abbildeten.
Kwok pflegte seinen guten Geschmack. Es hatte ihn Monate und ein Vermögen gekostet, bis alles seinen Vorstellungen entsprach. Sein Einfluss erstreckte sich in alle Richtungen über das Chinesische Meer hinaus.
Obwohl er in vielen Dingen und zu allen Zeiten eine außergewöhnliche Disziplin bewies, konnte sein Aussehen doch nicht seine Vorliebe für gutes Essen leugnen. Sein unförmiger Bauch schien aus dem englischen Anzug mit dem Hongkong Yachtclub-Abzeichen am Revers quellen zu wollen, wenn er sich bewegte, um eine bequemere Stellung einzunehmen.
Auf seinem feisten Gesicht glänzte Schweiß, den er unablässig mit einem Seidentuch wegwischte. Goldringe, einer in Form eines sich windenden Drachen, glitzerten an seinen wurstförmigen Fingern.
„Du hast es also geschafft, Li“, stellte Kwok mit hoher Stimme fest.
„Ja, ehrenwerter Vetter. Dank deiner Hilfe konnten ich und mein Sohn entkommen.“
Kwoks runder Schädel nickte traurig, und einen Augenblick lang glaubte Li, er könnte sich vom Hals lösen und über den Teppichboden rollen.
„Es tut mir leid um Honghua und May-May.“
„Vetter Wun, erlaube, dass ich dich frage, ob du ihnen helfen kannst.“
Harry Kwok blickte Li besorgt an. Er war das Oberhaupt der
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