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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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doch keine Törtchen.«
    »Klar«, sagte Friederike, »Jungs mögen keine Törtchen.«
     
    Sie ließ sich die Törtchen in die gelackten Schachteln einpacken, hängte sich die Tüte über den Lenker ihres Fahrrads und fuhr von der Friedrichstraße ins Regierungsviertel. Dort gab es direkt an der Spree eine große, breite, hellgraue Steintreppe, von der man den Fluss, den Reichstag und die Wipfel des Tiergartens sehen konnte. Ein Ort, an dem die Entscheidungen schon gefallen waren und an dem sie die Törtchen essen und den Gedanken aufschieben konnte, dass es irgendwann an der Zeit wäre, einen Schwangerschaftstest zu machen.
    Eine japanische Reisegruppe von circa zwölf huttragenden Damen ging am Fuß der Treppe vorbei. Die Damen blieben stehen, schauten sie an und tuschelten, bis eine von ihnen siein Staccato-Englisch bat, ein Photo von ihr machen zu dürfen. Sie machte das Photo, und die Japanerinnen zogen mit den nach innen geknickten Knien und ihrem schlurfenden Gang ab, als trügen sie keine Hosen und Burberry-Mäntel, sondern Kimonos und Holzpantoffeln. Friederike schaute ihnen eine Weile nach und dachte, dass es ein weiter Weg gewesen war für Yoko, diesen Gang abzulegen und mit wiegenden Hüften und schlenkernden Schenkeln die Berliner Männerwelt auf den Kopf zu stellen.
    Und mit jedem Bissen schmolz der groteske Vorsatz mit dem Schwangerschaftstest in ihrem Kopf wie die Mousse auf ihrer Zunge, und sie vertagte ihn auf später oder nirgendwann. Sie dachte an Salman Rushdies Tante und dass die niemals einen solchen Test gemacht hätte; sie hätte sich mit kardamom- und zimtgewürzten Plätzchen vollgestopft und der Dinge geharrt, die da kommen sollten. Und irgendwann hätte der kleine Salman dann eine Cousine bekommen – oder auch nicht.
    Wie gut, dass sie das nicht wusste. Wie gut, dass sie nicht wusste, ob das süße Hoffen bei der Tante von Rushdie jemals eingelöst worden war. Es hätte ihr heute den Boden unter den Füßen weggezogen, wenn sie kinderlos gestorben wäre.

 
    Nun fühlte sich jeder Handgriff für Yoko so an, als wäre sie nie fort gewesen: Das Lösen der Fahrkarte an dem U-Bahnhof, das Anstehen vor dem überfüllten Zug, das Senken des Kopfes im Abteil, das Stehen neben all diesen Menschen auf engstem Raum, ohne sich beengt zu fühlen und ohne Passanten als Einzelpersonen wahrnehmen zu müssen. All das ging wie von selbst. Sie war Japanerin. Und als solche würde sie jetzt wieder nach Hause fliegen. Und ihre Wände anstreichen. Und mit Friederike zu dem See mit dem Steg fahren, auf dem sie in ihrem Schoß eingeschlafen war, und Milchkaffee in der Milchhalle trinken und ihren Chef küssen und für Siri einen neuen Mann finden.
    Doch vorher, vorher würde sie in das Hotel aus dem Film fahren, in dem sie für Alison und sich ein Zimmer bestellt hatte, und dort nach Alison suchen.
    Nach dem nächsten Halt wurde ein Sitzplatz frei, und sie setzte sich. Gegenüber saß ein dicker Japaner mit ausgedünntem Vollbart und irrem Blick. Er sah dem Chef der Aum-Sekte zum Verwechseln ähnlich. Auf seinem Schoß saß ein kleines Mädchen und flocht kleine Zöpfe in die langen Barthaare. Der Mann wandte sich dem Mädchen zu und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das Mädchen lachte und schmiegte sich an ihn. Das Leben findet auf einem schmalen Grat statt, dachte sie.
     
    Die Lobby war geschmückt mit weißen Lilien. Die hohen, schmalen Vasen waren aus rotem, fast undurchsichtigem Glas in unterschiedlichen Höhen. Der Geruch war so betäubend,als wollte das Hotel seine Gäste ködern und in einen Dämmerzustand versetzen. Die Luxusversion eines Giftgasanschlags, dachte Yoko und ging durch die riesige Halle hindurch auf die Rezeption zu, hinter der ein Japaner stand, der wie der Antagonist des Bärtigen aus der U-Bahn aussah: glattrasiert und durchtrainiert, mit gezupften Augenbrauen und manikürten Fingernägeln – der machte ihr Angst. Also stellte sie sich an den anderen Schalter hinter einen blonden Mann. Der jungen Rezeptionistin dort wuchsen nervöse Flecken aus dem Kragen.
    »Sind Sie Mr. Ginster?« fragte die Rezeptionistin und schürzte ihre Lippen so, als wolle sie dem blonden Gast die Antwort abnehmen. »Ginster? Nein. Wieso?« fragte der auf Englisch mit einer angenehm tiefen Stimme und deutschem Akzent, der sie elektrisierte, als hätte sie befürchtet, nie wieder ein deutsches Wort zu hören. Er trug einen kurzen blonden Bart, hatte dunkelgrüne, weihergrüne Augen, volle Lippen und einen gut

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