Durch Mark und Bein: 4. Fall mit Tempe Brennan
intellektuell Überlegenen«, bemerkte ich.
»Ja. Je älter Prentice wurde, desto stärker wurde seine Weltsicht von seiner kulturübergreifenden Lektüre über Kosmologie und Kannibalismus bestimmt. Sein Wirklichkeitsbezug wurde immer schwächer.«
Er hielt inne, offensichtlich, um sich zu überlegen, was er alles sagen konnte.
»Angefangen hat es als frivole Blasphemie. Keiner hat wirklich daran geglaubt.«
»Woran geglaubt?«
»Dass das Essen von Toten die Endgültigkeit des Todes negiert. Dass der Verzehr des Fleisches eines anderen Menschen einem die Einverleibung von Seele, Persönlichkeit und Weisheit ermöglicht.«
»Daran hat Dashwood geglaubt?«
Eine knochige Schulter zuckte.
»Vielleicht. Vielleicht benutzte er das Konzept, und für den inneren Zirkel auch den realen Akt, um den Club beisammenzuhalten. Kollektives Frönen des Verbotenen. Das Zusammenschweißen der Eingeweihten gegenüber Außenstehenden. Prentice begriff das kulturelle Ritual als Verstärker der Einheit unter denen, die es vollzogen.«
»Wie fing das alles an?«
»Mit einem Unfall.«
Er schniefte.
»Ein gottverdammter Unfall. Eines Sommers tauchte ein junger Mann bei dem Blockhaus auf. Keine Ahnung, was er dort wollte. Es wurde viel getrunken, dann kam es zum Streit, der Junge wurde getötet. Prentice schlug vor, dass jeder –«
Er zog ein Taschentuch heraus und wischte sich damit die Augen.
»Das war vor dem Krieg. Ich erfuhr erst Jahre später davon, als ich ein Gespräch mithörte, das nicht für meine Ohren bestimmt war.«
»Ja.«
»Prentice schnitt Scheiben aus dem Oberschenkelmuskel des Jungen und verlangte von jedem, das Fleisch zu verzehren. Damals gab es noch keinen inneren Zirkel. Jeder nahm daran teil und machte sich gleich schuldig. Niemand würde über den Tod des Jungen reden. Sie verscharrten die Leiche im Wald, im Jahr darauf wurde der innere Zirkel gegründet, und Tucker Adams wurde ermordet.«
»Intelligente Männer haben diesen Wahnsinn einfach so hingenommen? Gebildete Männer mit Ehefrauen, Familien und verantwortungsvollen Positionen?«
»Prentice Dashwood war ein außergewöhnlich charismatischer Mann. Wenn er etwas sagte, ergab immer alles einen Sinn.«
»Kannibalismus?«, fragte ich mit ruhiger Stimme.
»Haben Sie eine Vorstellung, wie weit verbreitet Menschenfresserei in der westlichen Kultur ist? Menschenopfer werden im Alten Testament, im Rig-Veda erwähnt. Anthropophagie ist Kernbestandteil vieler griechischer und römischer Mythen. Schauen Sie sich die Literatur an. Jonathan Swifts Ein bescheidener Vorschlag und Tom Prests Geschichte von Sweeney Todd. Kinofilme wie Soylent Grün; Grüne Tomaten; Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber; Jean Luc Godards Wochenende. Wir dürfen auch die Kindermärchen nicht vergessen: Hänsel und Gretel, der Gingerbread Man und die verschiedenen Versionen von Schneewittchen, Aschenputtel und Rotkäppchen. ›Großmutter, warum hast du so große Zähne?‹«
Er holte zitternd Atem.
»Und natürlich gibt es die Kannibalen aus Notwendigkeit. Die Donner-Partie; das in den Anden abgestürzte Rugby-Team; die Mannschaft der Yacht Mignonette; Martin Hartwell, der in der Arktis gestrandete Buschpilot. Wir sind fasziniert von diesen Geschichten. Und verschlingen wir nicht förmlich Meldungen über kannibalische Serienmörder?«
Wieder atmete er tief ein und langsam wieder aus.
»Ich kann es nicht erklären, will es nicht rechtfertigen. Prentice ließ alles so exotisch klingen. Wir waren ungezogene Jungs, die ein gemeinsames Interesse an einem verruchten Thema hatten.«
»Fay ce que voudras.«
Ich zitierte den Satz, der über dem Eingang zu dem Kellertunnel eingemeißelt war. Während meiner Rekonvaleszenz hatte ich erfahren, dass dieses Rabelais-Zitat aus dem sechzehnten Jahrhundert auch den Torbogen und die Kaminsimse von Medmenham Abbey zierten.
»›Tu, was du willst‹«, übersetzte Midkiff und lachte dann freudlos. »Es ist ironisch. Die Höllenfeuer-Leute benutzten das Zitat, um ihre Ausschweifungen zu rechtfertigen, aber eigentlich schrieb Rabelais es dem heiligen Augustinus zu. ›Liebe Gott und tu, was du willst. Denn wenn ein Mensch Gott liebt mit dem Geist der Weisheit, dann wird, weil er immer danach strebt, den göttlichen Willen zu erfüllen, sein Wollen immer das Richtige sein.‹«
»Wann starb Prentice Dashwood?«
»1969.«
»Wurde jemand ermordet?« Wir hatten nur acht Opfer gefunden.
»Für Prentice konnte es keinen Ersatz
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