Durch Mark und Bein: 4. Fall mit Tempe Brennan
macht dasselbe mit Wunden und Brüchen. Im Augenblick sieht es so aus, als wären die schlimmsten Verletzungen im hinteren Teil der Maschine passiert.« Die Anthropologen und Pathologen korrelierten die Verteilung der Verletzungen mit der Sitzverteilung. »Was ist mit der Radargruppe?«
»Nichts Unerwartetes. Nach dem Start flog die Maschine vom Flughafen aus in nordöstlicher Richtung nach Athens. Die Flugsicherung von Atlanta ist zuständig bis Winston-Salem, und von dort an übernimmt Washington, die Maschine hat also Atlantas Zuständigkeitsbereich nie verlassen. Das Radar zeigte einen Notruf des Piloten nach zwanzig Minuten und dreißig Sekunden Flugzeit an. Ungefähr neunzig Sekunden später zerbrach das Objekt in zwei Teile und verschwand dann ganz vom Schirm.«
Weit unten am Berg tauchten Scheinwerfer auf. Ryan und ich sahen zu, wie sie durch die Dunkelheit hochgekrochen kamen, in die Zufahrt einbogen und dann auf dem Parkplatz links des Hauses verlöschten. Augenblicke später erschien eine Gestalt auf dem Plattenweg. Als sie vor uns vorbeiging, sprach Ryan sie an.
»Langer Tag?«
»Wer da?« Der Mann hob sich kaum vom schwarzen Himmel ab.
»Andy Ryan.«
»Oh, bonsoir, Sir. Ich habe ganz vergessen, dass Sie auch hier untergebracht sind.« Die Stimme klang nach jahrelangem Whiskeykonsum. Vom Besitzer erkannte ich nur eine stämmige Figur und eine Schirmkappe.
»Das Flieder-Duschgel ist meins.«
»Das habe ich respektiert, Detective Ryan.«
»Ich würde Sie auf ein Bier einladen, aber die Bar ist geschlossen.«
Der Mann kam auf die Veranda, zog sich einen Stuhl heran, stellte eine Sporttasche daneben und setzte sich uns gegenüber. Im trüben Licht sah ich eine fleischige Nase und Wangen voller geplatzter Äderchen.
Als er vorgestellt wurde, nahm FBI Special Agent Byron McMahon seine Kappe ab und verbeugte sich in meine Richtung. Ich sah dichte weiße Haare, die ein Mittelscheitel kaum bändigen konnte.
»Das geht auf mich.« McMahon zog den Reißverschluss seiner Tasche auf und holte einen Sechserpack Coors heraus.
»Das Elixier des Teufels«, sagte Ryan und zog eine Dose aus der Plastikhalterung.
»Ja«, stimmte McMahon ihm zu. »Danken wir ihm dafür.« Er wackelte mit einer Dose in meine Richtung.
Ich wollte ein Bier so sehr wie kaum sonst etwas seit langer Zeit. Ich erinnerte mich noch gut an das Gefühl, wie der Alkohol durch meine Adern sickert und in mir die Wärme aufsteigt, während seine Moleküle sich mit meinen vermischen. An die Entspannung und das Wohlbefinden.
Aber ich hatte einiges über mich selbst gelernt. Es hatte Jahre gedauert, aber jetzt wusste ich, dass jede Doppelhelix in mir sich Bacchus verschrieben hat. Obwohl ich mich nach dieser Art von Entspannung sehnte, wusste ich, dass die Euphorie nur vorübergehend sein würde, dass Wut und Selbstverachtung aber lang anhalten würden. Ich konnte nicht trinken.
»Nein, danke.«
»Aber es ist genügend da von dem Zeug.«
»Das ist ja das Problem.«
McMahon lächelte, riss eine Dose aus der Halterung und steckte den Rest wieder in die Tasche.
»Und, was denkt das FBI?«, fragte Ryan.
»Dass irgendein Mistkerl die Maschine vom Himmel geholt hat.«
»An wen denkt das Bureau?«
»Ihre Biker-Kumpels stehen ziemlich hoch oben auf der Liste. Dieser Petricelli war ein fieser kleiner Gangster mit nichts als Scheiße im Hirn, aber er hatte gute Verbindungen.«
»Und?«
»Könnte ein professioneller Anschlag gewesen sein.«
Ein Windstoß brachte Rubys Hängekörbe zum Schwanken, und schwarze Schatten tanzten über Bodenbretter und Geländer.
»Aber es gibt noch ein anderes Szenario. Eine Mrs. Martha Simington saß auf 1A. Vor drei Monaten schloss Haskell Simington eine Lebensversicherung über zwei Millionen für seine Frau ab.«
»Das sind ja ganz neue Perspektiven.«
»Das Geld wäre ein substanzieller Trost für den trauernden Gatten. Ach, und das habe ich ganz vergessen. Das Paar lebt seit Jahren getrennt.«
»Ist Simington so pervers, dass er siebenundachtzig Menschen mit in den Tod reißen würde?« Ryan trank sein Coors aus und warf die leere Dose in McMahons Sporttasche.
»Wir sind gerade dabei, Simington richtig gut kennen zu lernen.« McMahon ahmte Ryan mit seiner leeren Dose nach.
»Hier ist noch ‘ne Möglichkeit: Auf 12F saß ein Neunzehnjähriger namens Anurudha Mahendran. Der Junge war ein Auslandsstudent aus Sri Lanka und Torwart der Fußballmannschaft.«
McMahon riss zwei neue Biere aus der Halterung
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