Durch Mark und Bein: 4. Fall mit Tempe Brennan
die Finger in die Lücke.
Was ich tat, war illegal. Das wusste ich. In Primroses Zimmer einzudringen war in meiner augenblicklichen Situation genau das Falsche. Aber ich musste mich versichern, dass mit ihr alles in Ordnung war. Falls sich herausstellte, dass dem nicht so war, musste ich wissen, dass ich alles getan hatte, um ihr zu helfen.
Und um ehrlich zu sein, musste ich es auch für mich selbst tun. Ich musste herausfinden, was es mit diesem Fuß auf sich hatte. Ich musste Primrose finden und diesen Männern beweisen, dass sie sich irrten.
Ich stellte mich breitbeinig hin und drückte. Das Fenster öffnete sich noch ein Stückchen weiter.
Ich hörte das erste Patta-patta-patt, und fette Tropfen klatschten auf die Holzdielen. Münzgroße Flecken sprenkelten den Boden um meine Stiefel herum, wurden immer mehr und verschmolzen miteinander.
Ich drückte das Fenster noch ein paar Zentimeter hoch.
In diesem Augenblick brach das Gewitter los. Blitze zuckten, Donner krachte, und der Regen war der reinste Sturzbach, der die Veranda in eine schimmernde Fläche verwandelte.
Ich ließ vom Fenster ab und drückte mich gegen die Wand, weil ich hoffte, dass der Dachüberhang mir ein wenig Schutz bieten würde. Binnen Sekunden waren meine Haare tropfnass, Wasser triefte mir von Ohren und Nase. Meine Kleidung klebte an meinem Körper wie Pappmaché an einem Drahtgestell.
Millionen von Tropfen stürzten vom Dach und der Veranda. Sie spritzten auf den Rasen, vereinigten sich dort und liefen in winzigen Bächen zwischen den Halmen hindurch. In der Dachrinne über meinem Kopf bildeten sie einen reißenden Fluss. Wind peitschte Blätter gegen die Hauswand und meine Beine und trieb andere über den Boden. Er brachte den Geruch von Erde und Holz mit sich und von zahllosen Wesen, die sich in Höhlen und Nestern verkrochen.
Zitternd, den Rücken an den Stuck gedrückt, die Hände unter den Achseln, stand ich da und wartete. Ich sah zu, wie Tropfen sich an einem Spinnennetz aufreihten, immer mehr wurden und das Gespinst schließlich durchbogen. Auch sein Schöpfer schaute zu, ein kleines braunes Knäuel auf einem der äußeren Fäden.
Inseln wurden geboren. Kontinentalplatten verschoben sich. Arten verschwanden für immer vom Angesicht dieser Erde.
Plötzlich klingelte mein Handy, und das Geräusch war so unerwartet, dass ich beinahe von der Veranda gesprungen wäre.
Ich drückte auf den Knopf.
»Kein Kommentar«, kreischte ich, weil ich einen Reporter erwartet hatte.
Ein Blitz schoss direkt in die Baumspitzen. Donner krachte.
»Wo zum Teufel sind Sie?«, fragte Lucy Crowe.
»Das Gewitter hat mich überrascht.«
»Sind Sie im Freien?«
»Sind Sie wieder in Bryson City?«
»Ich bin noch immer am Fontana Lake. Soll ich noch einmal anrufen, wenn Sie wieder ein Dach über dem Kopf haben?«
»Das könnte eine Weile dauern.« Ich hatte nicht die Absicht, ihr zu sagen, warum.
Crowe redete mit jemand anderem, meldete sich dann wieder.
»Ich fürchte, ich habe noch mehr schlechte Nachrichten für Sie.«
Im Hintergrund hörte ich Stimmen, das Knistern eines Polizeifunkgeräts.
»Wies aussieht, haben wir Primrose Hobbs gefunden.«
20
Während ich mich mit unserem geschätzten Vizegouverneur und seinen Freunden unterhielt, hatten die Besitzer eines Bootshafens eine Leiche gefunden.
Wie sie es gewohnt waren, standen Glenn und Irene Boynton bei Tagesanbruch auf und bewältigten den morgendlichen Ansturm, verliehen Ausrüstung, verkauften Köder und füllten Kühltaschen mit Eis, Sandwiches und Getränkedosen. Als Irene nach draußen ging, um ein Boot zu kontrollieren, das am Abend zuvor erst spät zurückgegeben worden war, erregte eine merkwürdige Wasserkräuselung ihre Aufmerksamkeit, und sie ging ans Ende der Anlegestelle. Als die Frau ins Wasser spähte, sah sie entsetzt zwei lidlose Augen, die sie anstarrten.
Crowes Beschreibung folgend, fand ich den Fontana Lake und dann den schmalen Kiesweg, der zum Hafen führte. Der Regen hatte nachgelassen, aber die Bäume trieften noch immer. Durch Pfützen zockelte ich auf den See zu, und meine Reifen spritzten Schlamm und Wasser hoch.
Als der Bootshafen in Sicht kam, sah ich ein Bergungsfahrzeug, einen Krankenwagen und zwei Streifenwagen, die den Parkplatz in oszillierendes rotes, blaues und gelbes Licht tauchten. Der Bootshafen lag an der entfernten Seite des Parkplatzes. Er bestand aus einem baufälligen Gebäude, das zugleich Mietbüro, Tankstelle und Gemischtwarenladen war
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