Durst - Roman
– eine Jacke tragen, worin so selbstverständliche Dinge wie Portemonnaie, Notizblock und Kugelschreiber bequem Platz fanden. Zudem führte ich den Zeitungsartikel und die Couverts mit den Drohschreiben und der Anzahlung mit mir. Ich wollte einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen.
«Kommen Sie herein.»
Frau Slavkovi ć war weniger distanziert als das letzte Mal. Ihr Gesicht war nicht mehr so aufgedunsen, und das Lächeln, womit sie mich empfing, liess sie jünger erscheinen.
Wir sassen im Wohnzimmer, tranken Kaffee und plauderten übers Wetter. Sie brachte zum Ausdruck, wie sehr sie den Wetterumschlag herbeigesehnt habe. Das machte sie mir sogleich ein wenig sympathischer.
Ich wunderte mich, dass sie mit keinem Wort die neuste Wendung erwähnte. Statt dessen erzählte sie, dass sie sich um ihre Verwandten im Kosovo sorge. Eine Schwester lebe dort mit ihrer Familie und erwäge seit den Unruhen im Februar, nach Belgrad zu ziehen. Sie könne nicht begreifen, weshalb Miloševi ć nach den Erfahrungen in Kroatien und Bosnien noch immer den harten Kurs verfolge. Sie sei von Jugend auf eine überzeugte Sozialistin gewesen, aber Miloševi ć habe mit seiner Nähe zu den Nationalisten jede Glaubwürdigkeit verspielt. Heute würde sie die reformorientierten Demokraten von Djindji ć wählen, auch wenn ihr deren Kniefall vor dem Westen suspekt sei.
Ich sagte, um etwas gesagt zu haben, für mich als Aussenstehender seien die Ereignisse auf dem Balkan nur schwer zu verstehen. Zudem stellte ich in den Medien einen gewissen Überdruss fest. Seit der spektakulären Belagerung Sarajevos hätten die Leute das Interesse verloren.
Sie liess ihren Blick nachdenklich auf mir ruhen. Ich nutzte die Pause und reichte ihr wortlos den Zeitungsartikel.
«Was steht darin?»
«Lesen Sie.»
«Dazu muss ich meine Lesebrille holen.»
Sie stand auf und verschwand in einem Nebenzimmer.
Sie las den Artikel zu Ende, ohne eine Regung zu zeigen, und darauf gleich ein zweites Mal. Dann legte sie ihn auf den Couchtisch und fixierte mich über den Brillenrand hinweg.
Ich griff in meine Jackentasche und zog die Couverts hervor.
«Die Mühe war umsonst. Diesmal werden Sie die Rückgabe der Anzahlung nicht abschlagen.»
Frau Slavkovi ć nahm die Brille ab: «Sie täuschen sich.»
Die Überraschung stand mir wohl im Gesicht geschrieben, denn sie setzte hinzu: «Sie sind ein Mensch voller Widersprüche. Einmal behaupten Sie, die Wahrheit herausfinden zu wollen, und dann geben Sie beim geringsten Widerstand auf …»
«Frau Slavkovi ć ! Sie scheinen nicht zu begreifen, was Sie eben gelesen haben. Die Polizei hat Sie doch bestimmt bereits in Kenntnis gesetzt: Der Mörder Ihres Mannes ist überführt, er sitzt in Untersuchungshaft und hat ein Geständnis abgelegt!»
Sie lächelte nachsichtig und meinte: «Wohl nur Schweizer glauben, dass sich das, was in der Zeitung steht, mit der Wahrheit deckt.»
«Was wollen Sie jetzt damit wieder sagen?» Ich war verstimmt. Entgegen meiner Absicht drohte sich die Angelegenheit in die Länge zu ziehen.
«Ich weiss zwar nicht, weshalb das alles geschieht, aber jemand von grossem Einfluss scheint ein Interesse zu haben, die Wahrheit zu verschleiern.»
«Wie kommen Sie darauf? Ist das nicht eine etwas paranoide Vorstellung?»
Frau Slavkovi ć nahm diese Bemerkung mit Gelassenheit hin.
«Sie selbst waren es, der mich zu der Überzeugung gebracht hat. Den Mord an meinem Mann aufzuklären bedeutet letztlich, die Wahrheit über seine Vergangenheit herauszufinden», orakelte sie. «Noch vor wenigen Tagen lebte ich in der Annahme, Zoran sei auf anständige Weise zu seinem Vermögen gekommen.»
Sie verstummte und liess mich nicht aus den Augen. Ich bat um Erlaubnis zu rauchen. Sie stand auf und stellte einen Aschenbecher auf den Tisch.
«Was nun?», sagte ich und blies den Rauch aus.
«Helfen Sie mir, die Wahrheit über meinen Mann herauszufinden. Ich bin sicher, so erfahren Sie auch, wer die Briefe geschrieben hat. Fragen Sie nicht warum, aber ich könnte schwören, dass der geständige Mann, sofern er überhaupt existiert, unschuldig an Zorans Tod ist.»
«Ich frage Sie trotzdem: Wie kommen Sie darauf?»
Sie strich sich die Haare aus der Stirn. «Die Formulierung ‹ethnisch motivierte Abrechnung›. Das sollte Sie doch stutzig machen.»
Ich zog die Schultern hoch.
«Vergessen Sie Jugoslawien – dort mag es ethnische Säuberungen und dergleichen geben. Aber wir sind hier in der Schweiz. Das ist
Weitere Kostenlose Bücher