Durst - Roman
ebenso habe die Geschäftsführerin sie in Schutz genommen, wenn sich Kunden über sie beschwert hätten – was vorgekommen sei. Sie habe nämlich gewusst, dass Rosalia mit den Männern nicht mitginge und sie auch nicht auf ihr Zimmer nähme. Laut Vertrag sei sie dazu nicht verpflichtet. Die Tänzerinnen täten das auf eigene Rechnung und Verantwortung.
Rosalia stocherte im Cappuccinoschaum.
Sie habe es versucht, mehrmals. Mit Champagner betäubt, habe sie sich gezwungen, an das viele Geld zu denken, das sie verdienen würde, an ihre Familie, ihren Bruder und dessen Studium, und dabei den fremden Mann, der sich an ihrem Körper zu schaffen machte, kaum wahrgenommen. Sie sei irgendwo ausserhalb dieses Körpers gewesen und habe zugeschaut – wie sie als Kinder den Hunden zugeschaut hätten.
Aber jeweils danach habe sie sich übergeben müssen, immer wieder, der Brechreiz habe auch nicht nachgelassen, nachdem sich ihr Magen längst entleert hatte. Sie habe sich schmutzig gefühlt, sich geduscht und immer wieder die Hände gewaschen. Am liebsten wäre sie nicht mehr in ihren Körper zurückgekehrt.
Rosalia schnappte nach Luft.
Die erfahrenen Tänzerinnen hätten sie getröstet, ihr zugeredet und beteuert, es sei ihnen nicht anders ergangen. Am Anfang sei das normal. Doch es gehe vorbei, man müsse da einfach hindurch.
Ich räusperte mich geräuschvoll.
Aber sie sei sich sicher gewesen, dass sie das nicht durchstehen könne. Sie habe sich wohl eingebildet, zu gut dafür zu sein. Dabei sei ihre Familie doch so dringend auf das Geld angewiesen.
Rosalia schluckte die Tränen hinunter.
Obwohl sie dieser Gedanke gequält habe, habe sie es nicht wieder versuchen wollen. Die Geschäftsführerin habe sie dabei unterstützt. Mit der Beteiligung am Champagnerumsatz habe sie ihr Einkommen zum Grundlohn auch so ordentlich anheben können. Sie seien wöchentlich ausbezahlt worden. Jeden Rappen habe sie auf die Seite gelegt.
Rosalia machte eine Pause.
Aber einige Gäste hätten mit ihrer Agentur Kontakt aufgenommen und behauptet, sie verspreche den Kunden Dinge, die sie dann nicht einhalte. Letzte Woche habe sie von der Agentur einen Brief erhalten, worin ihr mitgeteilt wurde, man wolle sie nicht mehr weitervermitteln. Nun suche sie sich ein Zimmer und hoffe, dass die Geschäftsführerin möglichst schnell eine neue Agentur finde. Das habe sie ihr nämlich versprochen.
Ich glaubte nun zu wissen, worauf Rosalia hinaus wollte. Ich steckte mir eine Zigarette an und gab der Kellnerin einen Fingerzeig.
«Would you like to drink something else?»
Ich bestellte ein Bier und für Rosalia ein Schnitzwasser.
Nachdem die Kellnerin das Gewünschte hingestellt hatte, sagte ich, ich wüsste ein preiswertes Hotel, hier in Emmenbrücke. Es werde schon alles gut kommen, sie solle sich nicht so viele Sorgen machen.
Nachdem wir ausgetrunken, und ich bezahlt hatte, griff ich die Reisetaschen und trat hinter Rosalia ins Freie.
Über der Industriestadt lag eine drückende Hitze. Im Westen begann sich der Himmel wie mit Spinnweben zu überziehen, dichte, schmutzige Staubgeflechte, indessen sich der Sonnenplatz um seinen Namen verdient machte. Es war ja glücklicherweise nicht weit: die Strassenseite wechseln und auf dem rechten Trottoir die Gerliswilstrasse hinunter.
Ich überliess Rosalia das Wohnzimmer, worin ich mich ohnehin nur aufhielt, wenn ich Besuch hatte – was selten vorkam. Ich zeigte ihr, wie man das Sofa zu einer Liegefläche auszog. Ich gab ihr ein Kissen, eine Decke und frische Bettwäsche und vertraute ihr den zweiten Wohnungsschlüssel an. Dann teilte ich ihr die Hausordnung mit: vor Mittag keinen Lärm machen. Der Rest ergäbe sich von allein.
Nachdem sie sich überschwänglich bedankt hatte – Umarmung, Küsschen und ein Schwall von Dankesworten –, sah ich ihr eine Zeit lang zu, wie sie ihre Sachen auspackte und in die dafür bereitgestellte Kommode legte. Auf die Ablagefläche stellte sie ein süssliches Muttergottesbild und eine verwackelte Aufnahme ihrer Familie.
Ich verliess das Zimmer und ging in die Küche, wo ich mir eine Zigarette ansteckte. Für einen Augenblick kamen mir Zweifel an der Richtigkeit meiner Entscheidung. Es war lange her, dass ich meine Wohnung mit jemandem geteilt hatte. Aber der Gedanke an Rosalias Lage entkräftete meine Bedenken. Wir würden schon aneinander vorbeikommen.
Ich öffnete das Fenster und hörte den Anrufbeantworter ab, der eine neue Nachricht aufgezeichnet hatte.
«Was
Weitere Kostenlose Bücher