Durst - Roman
ich sicher, dass wir unseren Verfolger abgeschüttelt hatten. Ibrahim half mir, den Rucksack zu schultern, und stellte Anitas Taschen auf den Boden.
Ich steckte ihm eine Hunderternote zu.
«Viel zu viel!»
«Du bist unbezahlbar …»
Anita schenkte ihm ein zustimmendes Lächeln.
Wir betraten den Bahnhof durch den Haupteingang. Ich blieb unter der grossen Anzeigetafel stehen.
«Der nächste Zug fährt … Richtung Zürich … in einer Minute, Gleis acht – komm!»
Wir rannten los, so gut das ging – ich beladen mit dem Tramper und den zwei schweren Taschen, Anita mit ihren eleganten, hochhackigen Spangenpumps.
Wir stiegen bei der ersten Tür ein und blieben im Wagenübergang stehen. Ich hatte das Gepäck abgestellt und mir eben eine Zigarette angesteckt, als die Lokomotive zu ziehen begann. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie den Zug auf fünfzig Stundenkilometer beschleunigt.
Wir hielten uns an derselben Haltestange fest. Anita sah mich auf eine merkwürdige Weise an. Unversehens trat sie einen Schritt vor und legte ihre Arme um mich. Meine Hand mit dem abgespreizten Zeige- und Mittelfinger kam auf ihrem Kreuz zu liegen. Von den beiden ausgeprägten Strängen beidseits der Wirbelsäule liess sich auf eine kräftige Rückenmuskulatur schliessen. Ich bettete meinen Daumenballen in die sanfte Mulde.
Nach einer Weile liess sie mich wieder los, und ich tat einen kräftigen Zug an meiner Zigarette.
«Hättest du vielleicht etwas dagegen, wenn ich kurz mal mit deinem Handy telefonieren würde?»
Ich fragte mich, weshalb ich mich so umständlich ausdrückte.
Sie griff in ihr schwarzes Handtäschchen und reichte mir das Ding. Ich stellte die Nummer ein und ging an der Gummiwulstdichtung vorbei in den nächsten Wagen.
Als ich zurückkam, hatte sich Anita auf den Klappsitz gesetzt und sah zum Fenster hinaus. Ich gab ihr das Mobiltelefon zurück.
«Beim übernächsten Halt steigen wir aus – wir werden abgeholt.»
Draussen zogen Wohn- und Gewerbehäuser vorbei.
«Bitte versteh das nicht falsch …»
Ich liess die Kippe fallen und zertrat sie. «Schon vergessen …»
Sie drehte den Kopf und erzwang meinen Blick. «So ein schlechtes Gedächtnis hast du?»
Machte sie einen Witz?
Ich sagte: «Von so was versteh ich nicht viel, darum kann ich auch nicht wirklich viel falsch verstehen – verstehst du, was ich sagen will?»
Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie nickte behutsam.
Wir sahen wieder zum Fenster hinaus. Schmales Wasser zwischen saftig grünen Moränehügeln. Es folgten Streusiedlungen aus Einfamilienhäusern, die aussahen, als beständen sie aus Plastik. Ab und zu ein Bauernhof. Wir hatten die Stadt verlassen.
Jetzt ist alles aus, dachte ich, als wir um das Bahnhofsgebäude herum zur Strasse kamen: Am Strassenrand stand der rote Golf, der uns zuvor verfolgt hatte. Aber dann wurde die Tür aufgestossen, und Petars breites Grinsen kam zum Vorschein.
«Du warst das also?»
«Shit, hast wohl geglaubt, du könntest mich so leicht abschütteln!»
«Kunststück, wenn ich dir den Treffpunkt verrate …»
Ich bat Petar, mir den Kofferraum zu öffnen.
«Was ist mit ihr?», fragte er, als Anita auf die Toilette ging.
«Sie gehört zum Team …»
Petar zog die Augenbrauen hoch. «Du vögelst mit ihr!»
Ich verdrehte die Augen.
«Motherfucker – du hast dich verknallt!»
Ich liess meinen Blick in die Landschaft schweifen und richtete ihn wieder auf mein Gegenüber. «Petar, es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen dem, was du dir vor der Glotze reinziehst, und dem, was man Wirklichkeit nennt …»
«Hey, komm schon, sie sieht wirklich geil aus.»
Der Kerl ging mir auf die Nerven. Ich trat einen Schritt zurück.
«Ich weiss nicht, was du hast! Was ist schon dabei?»
Er war mir wieder aufgerückt. «Aber kann man ihr trauen?»
Ich wich seinem Blick aus.
«Hey Mann, ich will nichts riskieren! Fuck, hörst mir überhaupt zu? Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine Scheisse auf mich wartet, wenn sie nicht dichthält!»
Ich tat einen Schritt zur Seite. «Also gut, okay. Ich versteh ja deine Befürchtung. Aber kannst mir glauben – sie ist in Ordnung. Sie ist Journalistin und hinter der Story her. Genau wie wir. Ich bürge für sie!»
Seine Miene versteinerte sich. «Du gibst dein Ehrenwort darauf?»
Ich seufzte. «Mein Ehrenwort.»
Ich ergriff seine ausgestreckte Hand.
Verflucht, wie in einem dieser infantilen Machofilme.
Petars Wohnung lag im hinteren Teil des Gebäudes.
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