Durst - Roman
Ringordner. Ich nahm den obersten heraus. Sein Rückenschild trug die Aufschrift «Kreditoren». Ich öffnete ihn und entnahm den Ausstellungstagen der darin enthaltenen Rechnungen, dass es sich um die Buchhaltung des laufenden Jahres handelte. Ich legte ihn zur Seite und sah mir die anderen Ordner an. Sie waren ebenfalls nach ihrem Inhalt beschriftet: «Debitoren», «Lohnbuchhaltung», «Mehrwertsteuer», «Kassenbuch». Zuunterst lag eine in schwarzes Leder gebunde Agenda.
Ich hatte gefunden, wonach ich gesucht hatte.
«Wo ist eigentlich Faruk?», fragte ich, nachdem ich mir den Mund mit der Serviette abgewischt hatte. Wir sassen zu dritt am Tisch, der unter einem geblümten Tuch verborgen war. Auf einem dreiarmigen Leuchter steckten Kerzen. Sie brannten.
Petar zuckte mit den Achseln. «Treibt sich wahrscheinlich unten an der Emme rum …»
Er wandte sich wieder Anita zu, die er pausenlos zum Lachen brachte, ohne dafür besonders geistreich zu sein. Es hatte ganz den Anschein eines romantischen Tête-à-Têtes erweckt, als ich zuvor die Wohnung betreten hatte. Anita und Petar hatten wohl nicht mehr mit mir gerechnet.
«An der Emme? Was macht Faruk an der Emme unten?», unterbrach ich Anitas entzücktes Lachen.
Petar streifte mich mit einem gelangweilten Blick. «Weiss nicht? Fische zählen vielleicht …»
Anita beobachtete schmunzelnd meine Reaktion.
Ich trank den Rest Rioja in einem Zug, stand auf und stellte mein Geschirr in den Abwaschtrog. «Bin drüben in der Zentrale …»
Ich zündete mir eine Zigarette an. «Hat übrigens gut geschmeckt.»
Anitas ausgelassenes Lachen begleitete mich bis in die Zentrale hinüber. Ich liess mich ins Sofa fallen, klemmte die Zigarette in eine Rille des Aschenbechers und zog die Bananenschachtel unter dem Rauchertisch hervor. Bevor ich mich dem Ordner zuwandte, auf dessen Rückenschild «Lohnbuchhaltung» stand, blätterte ich die Agenda durch. Wie ich befürchtet hatte: Slavkovi ć hatte seine Notizen konsequent in kyrillischer Schrift vorgenommen. Ich legte das Büchlein zur Seite und schlug den gelben Ringordner auf.
Im Gegensatz zur Agenda war die Buchhaltung in deutscher Sprache gehalten. Jedem Mitarbeiter war ein Registerblatt mit seitlich hervorstehendem Rand zugeordnet, worauf sein Name stand. Den Anfang machten die Chauffeure, gefolgt vom Büromitarbeiter – den kennenzulernen ich bereits das Vergnügen hatte – und einem gewissen Miroslav Djilas, einem bosnischschweizerischen Doppelbürger, der, davon hatte mich Frau Slavkovi ć in Kenntnis gesetzt, ihrem Mann bei der Buchführung zur Hand gegangen war.
Auf den Lohnabrechnungsblättern waren die üblichen Zulagen und Abzüge ordentlich aufgelistet. Im Anhang fanden sich die Rapportblätter für die geleisteten Stunden. Die Zahlen, die ich stichprobenweise überprüfte, stimmten mit den Angaben auf den Lohnabrechnungsblättern überein. Ich griff das Registerblatt, das mit «Faruk Tahiri» versehen war, und schlug es um. Die Löhne für die Monate Januar bis Mai waren auch hier jeweils mit einem Lohnabrechnungsblatt dokumentiert. Wie Faruk erwähnt hatte, wurde dabei die Grenze von sechstausend Franken nie überschritten. Obwohl ich wusste, dass diese Rapportblätter fingiert waren, machten die darauf festgehaltenen Angaben auf mich einen absolut seriösen Eindruck.
Ich stand auf und entnahm Petars Kühlschrank eine grosse Flasche Bier. Wieder auf dem Sofa angekommen, katapultierte ich den Kronenkorken mithilfe meines Feuerzeug in eine entfernte Ecke des Raumes. Dann wandte ich mich wieder der Lohnbuchhaltung zu.
Nach ungefähr einer halben Stunde schloss ich den Ringordner und legte ihn auf den Boden. Als Nächstes nahm ich mir den Ordner mit der Bezeichnung «Kreditoren» vor. Die Blätter im Register markierten die vergangenen Monate in umgekehrter Reihenfolge, beginnend also beim Monat Mai. Hier waren die Rechnungen gesammelt, die für verschiedene Dienstleistungen und Lieferungen ausgestellt worden waren: Rechnungen des Pneuhauses für den Reifenwechsel, solche für Getränke- und Snacklieferungen, für die chemische Reinigung der Sitzbezüge, Treibstoffverbrauch, den Service der Garage und für Ersatzteile, für Strom und Telefon, für Kundengeschenke und so weiter.
Ich steckte mir gerade eine Zigarette an, als die Holzdielen im Vorzimmer zu knarren begannen. Kurz darauf betrat Faruk – in seinem bombastischen Ledermantel – den Raum.
«Du hier?»
Ich nickte.
Faruk sah mich eine Weile
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