Durst: Thriller (German Edition)
sind an der Quelle angelangt. Gib mir das Glas « , sagte er.
Der Geologe steckte die Hand in seinen Beutel und zog ein schwarzes Lederfutteral heraus. Darin befand sich, geschützt von elfenbeinfarbenen Satinkissen, ein Kristallkelch. Der Alte hockte sich auf die Hacken, den Kelch in der einen, die Taschenlampe in der anderen Hand. An einem Felsvorsprung stauchte sich der Strahl, und so war der Kelch in wenigen Sekunden gefüllt. Das Glas funkelte im Licht der Taschenlampe und ließ eine kostbare Filigranarbeit aus Dukatengold hervortreten: einen Drachenkopf.
Er trank schweigend, dann steckte er zwei Finger ins Wasser, schloss die Augen und berührte mit den Fingerspitzen seine Stirn. Der Geologe betrachtete ihn stumm, sah aber nicht viel mehr als einen Schatten, eine Gestalt, die zunehmend an Konturen verlor. Das Geräusch, mit dem in regelmäßigen Abständen Wassertropfen auf dem Felsen zerbrachen, war der einzige Laut in der Stille ringsum.
» Drache « , flüsterte der Geologe und leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht. » Erlauben Sie mir, Ihnen alles Gute zum Geburtstag zu wünschen. «
» Danke, Leonardo. « Der Alte trat aus dem Lichtkegel heraus. Der Geologe sah, wie er sich der feuchten Wand näherte, wie seine Hand darüberstrich, aber die Gestalt hob sich praktisch nicht mehr vom Felsen ab.
Nur die so charakteristische raue Stimme des Alten vernahm er. » Jetzt gehöre ich diesem Wasser. Und dieses Wasser gehört mir. «
22
Am Morgen nach seinem achtzigsten Geburtstag schlug der Drache sehr früh die Augen auf. Dem Karmeliterinnenkloster, das man zu einem Luxushotel umgebaut hatte, fehlte es ein wenig an Authentizität, aber die Atmosphäre hatte etwas Entspannendes. Er schaute sich lange in seinem Zimmer um. Irgendetwas gefiel ihm hier. Vielleicht dieses Licht. Das Zimmer war karg eingerichtet. Ein Luxusgefängnis für wenige Auserwählte. Das Fenster war nicht viel mehr als ein schmaler Schlitz, durch den man Teile von Matera erblickte, eingetaucht ins Licht der Morgendämmerung. Sanft legte sich das Altrosa über die Erdtöne der Hauswände.
Der Himmel war wolkenfrei, aber von einem diesigen Schleier überzogen. Obwohl Sommer war, strahlte der Travertin-Boden, dem man seine poröse Patina wiedergegeben hatte, Kühle aus. Natürliches Licht fiel auf die Silhouette des Drachen. Er war vollkommen nackt und hatte mitten im Zimmer die Stellung eingenommen, die er selbst › Königsschildkröte ‹ nannte. Die Augen geschlossen und vollkommen reglos, verharrte er zweiunddreißig Minuten lang wie eine Statue in dieser Position.
Er konnte sich nicht erinnern, wann die Welt angefangen hatte, ihn so zu nennen: Drache.
Tatsächlich kannte die Welt seinen wahren Namen gar nicht. Seinen wahren Namen kannte niemand. Wenn jemand an ihn dachte, dann dachte er einfach an Faucon, Jean-Sebastian Faucon, für seine engsten Mitarbeiter auch › der Doktor ‹ . Andere wiederum verlängerten den Namen um ein paar Zentimeter: dieser gewaltige Bastard Faucon.
Geschichten gab es viele über ihn, und ebenso viele Leute, die behaupteten, die einzig wahre zu kennen, einschließlich nie gehörter, überraschender Details.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der er Sebastiano geheißen hatte. Den Namen hatte er von seinem Großvater geerbt, einem Bauern. Die Familie war arm gewesen, sehr arm. Irgendwann hatten sie ihr süditalienisches Dorf verlassen und in Argentinien ein neues Leben begonnen. Großvater Sebastiano war noch im Jahr ihrer Abreise, 1940, gestorben. Vermutlich hatte er beschlossen, dass man der Sache besser ein Ende bereitete, bevor man sich auf eine solche Reise begab. So konnten die Knochen dort begraben werden, wo man sein gesamtes Leben verbracht hatte.
Die Familie war aber tatsächlich aufgebrochen. Sebastiano war vierzehn gewesen und seine Schwester Laura noch gar nicht geboren. Seine Eltern hatten die allergrößten Hoffnungen mit dieser Reise verbunden.
In den ersten Jahren in Argentinien litten sie Hunger. Vater Alfredo konnte allerdings Brot backen. Italienisches Brot. Sie verließen Buenos Aires und zogen nach Rosario, damals ein ländliches Städtchen, in dem Sebastianos Vater unter größten Entbehrungen eine kleine Bäckerei erwerben konnte. So klein war sie, dass es nicht einmal ein Schild gab, nur den Duft von Brot, um Kunden anzulocken. Alfredos Brot, wie die Leute sagten. In der staatlichen Schule von Rosario nannte ihn niemand mehr Sebastiano. Das › o ‹ am Ende wurde einfach
Weitere Kostenlose Bücher