Durst: Thriller (German Edition)
Instrumentenlandesystem. Ohne dieses kleine elektronische Gehirn, das in Relation zur Entfernung die ideale Fluggeschwindigkeit ermittelt, ist der Pilot gezwungen, die Landung im VFR -Modus, also im Sichtflug, zu bewerkstelligen und den Aufsetzpunkt des Fahrwerks mit den Augen abzuschätzen.
Die einzige Landebahn von Ilhéus ist 1577 Meter lang. Mit anderen Worten: Sie ist kurz. Erschwerend kommen die geografischen Gegebenheiten hinzu. Südlich der Landebahn fließt der Fluss, während sie im Norden ans Meer grenzt.
Der Kapitän, der am Samstag, den 13. Mai 2006, die Boeing 737–300 der brasilianischen Airline Gol flog, musste sich wohl verschätzt haben, denn die Sicht war prächtig.
Sarah Clarice starrte wie hypnotisiert auf die silbern glänzenden Baracken, die inmitten der gewaltigen Massen glitzernden Wassers näher kamen, als sie plötzlich den deutlichen Eindruck hatte, dass die Motoren hochgejagt wurden und die Baracken wieder aus ihrem Sichtfeld verschwanden. Unerwartet riss das Flugzeug die Nase hoch, visierte das Meer an und malte eine gigantische Ellipse in den Himmel über der Stadt. Von der Landebahn war nichts mehr zu sehen.
Ein paar Minuten später startete die Maschine einen neuen Versuch.
Na los, mach schon! Versuch endlich, deine verfluchten Tatzen auf den Boden zu bekommen.
Sarah Clarice hatte die Hände über dem Bauch verschränkt. Sie hasste Fliegen, aber durch einen üblen Scherz des Schicksals war sie gezwungen, es oft zu tun. Die Wartehallen der brasilianischen Flughäfen von Manaus bis Porto Alegre kannte sie zur Genüge, nur Ilhéus fehlte noch in ihrer Sammlung. Im selben Moment, als sie einen schnellen Blick aus dem Fenster warf, berührte die Boeing mit großem Getöse die Landebahn und begann eine wilde Bremsung.
Der Himmel draußen war nachtblau, und die Palmen bogen sich im Wind. Als der Jet langsam in Parkposition rollte, öffnete Sarah Clarice den Reißverschluss einer kleinen Seitentasche an ihrem Rucksack und kontrollierte, ob die Wasserflasche noch so fest verschlossen war wie in dem Moment, als sie durch die Flughafenkontrolle gegangen war.
Nachdem sie den Terminal verlassen hatte, blieb sie einen Moment stehen und schaute sich um. Dann setzte sie den Rucksack auf und begab sich schnell zum Taxistand.
Matheus Braga löste seine türkisblauen Augen von dem Blatt, das vor ihm lag. Beide Bürofenster standen offen und gaben den Blick auf den Mandelbaum frei. Der Raum war klein, aber die gläserne Öffnung zum Grünen ließ ihn größer erscheinen. Am Himmel war nicht der Schatten einer Wolke zu sehen, und der Morgen war lau. Eigentlich müsste Matheus eine Reihe von Formularen für seinen Wechsel an die Universität São Paulo ausfüllen– die Bürokratie hatte ihn wieder in ihren Klauen. Stattdessen schlich er aber schon fast zwei Wochen tatenlos um die Papiere herum. Soeben hatte er wieder einmal einen Blick in die blaue Mappe geworfen, in der er sie sammelte. Als er dann jedoch einen Papagei krächzen hörte, stand er schnell auf und ging zum Fenster. Ihm gefiel es, die Vögel zu beobachten, wenn sie im Mangobaum weiter hinten saßen und an den Früchten pickten.
Samstagmorgens war es ziemlich ruhig an der Uni. Fast schon zu ruhig. Plötzlich hörte er, wie sich Schritte über den Platz vor dem Nebengebäude näherten und jemand nach ihm fragte. Er beugte sich ein wenig aus dem Fenster. Die Stimme gehörte einer jungen Frau, die ziemlich ungewöhnlich aussah. Beeindruckend war das Wort, das Matheus bei ihrem Anblick in den Sinn kam. Sie verschwand sofort wieder aus seinem Blickfeld, und so kehrte er lustlos zu seinem Schreibtisch zurück, ohne so recht zu wissen, was er dort sollte. Irgendwann stand er auf und öffnete die Bürotür. Die Frau hatte soeben ihre Hand erhoben und wollte klopfen, zuckte aber jetzt zusammen und wich einen Schritt zurück. » Himmel! « , rief Sarah Clarice. » Entschuldigen Sie bitte. «
Matheus lächelte verlegen. » Guten Tag. Ich muss mich entschuldigen. «
» Sind Sie Professor Braga? «
» Ja. Und Sie? Frau Doktor Young? «
Sie lachten.
» Hallo. Ich bin Sarah Clarice. « Die Frau hielt ihm die Hand hin.
» Sehr erfreut. Matheus. «
Er war bemüht, die Situation etwas zu entspannen. » Was wollen wir machen? Möchten Sie hier reden, oder sollen wir in eine Bar gehen? «
» Weiß nicht. Vielleicht unterhalten wir uns lieber hier und gehen danach einen Kaffee trinken? Auf alle Fälle sollten wir uns aber duzen, oder? «
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